Bolivien - Jucker - Kakteen      

 
 











Feldarbeit
Etappe 14

Von Icla nach Tarvita, Azurduy, Río Huancarani und zurück nach Azurduy, Bolivien
November, Dezember 2005

Landkarte: Icla - Tarvita - Azurduy - Rio Huancarani - Azurduy

Im Jahr 1994 wanderte ich von Azurduy nach Camargo, um weitere Standorte der Gattung Sulcorebutien zu lokalisieren. Dabei entdeckte ich südlich von Azurduy, am Río Huancarani bisher unbekannte Kakteen: die Weingartia HJ 441 und die Parodia HJ 442 (siehe Etappe 13). Der Fund dieser Weingartia, die sich durch zahlreiche Merkmale deutlich von allen bislang bekannten Arten unterscheidet, konnte nur begrenzt untersucht werden. Im letzten Abschnitt des Tals des Río Huancarani, nahe seiner Mündung in den Río Pilcomayo, war es mir lediglich eingeschränkt möglich, weiterführende Informationen zu sammeln. Angaben über das Ausbreitungsgebiet fehlten - ein unverzichtbares Detail für eine Erstbeschreibung. Daher entschloss ich mich 2005, diesen beschwerlichen Weg erneut auf mich zu nehmen. Um weitere Gebiete des weitläufigen Gebirgszugs der Cordillera Mandinga nach Kakteen zu erkunden, begab ich mich erneut von Icla aus auf den Gebirgszug. Meine Wanderung führte entlang der Westseite südwärts, vorbei an Azurduy, bis hinunter zum Rio Huncarani.




Donnerstag, 10. November, Flug von Zürich nach La Paz

Heute musste ich sehr früh aufstehen, denn Regula, die im selben Haus wohnt und am Flughafen arbeitet, hatte mir freundlicherweise angeboten, mich mitzunehmen. Dora war noch halb im Schlaf, als ich mich schweren Herzens von ihr verabschiedete. Auch der Flughafen schien noch zu schlafen, und ich suchte lange, bis ich endlich einen Kiosk fand, um meinen sehnlichst erwarteten Kaffee zu geniessen - begleitet von einem frisch gebackenen Gipfeli. Da ich meinen Rucksack bereits gestern Abend eingecheckt hatte, fand ich mich viel zu früh am Terminal wieder, wo ich nun auf meinen Flug nach Frankfurt warte.

Der Abflug verläuft pünktlich, und über der dichten Nebelschicht bricht die aufgehende Sonne durch und malt farbenprächtige Muster an den Horizont. In Frankfurt bleibt nur wenig Zeit, um den Anschlussflug nach Caracas zu erreichen. Ganz hinten im Airbus A380, am Fensterplatz, sitze ich neben einem Schweden, der mit Freunden auf der Isla Margarita in Venezuela Urlaub machen möchte. Dort waren wir 1987 mit unserem VW-Bus unterwegs, und ich konnte ihm ein paar Tipps geben. Wie die meisten Passagiere habe ich den zehnstündigen Flug mit Essen, Trinken, Schlafen und Zeitungslesen verbracht.

Am Flughafen in La Guajira, wo wir in den Airbus A320 nach Lima umsteigen, zeigt das Thermometer 32°C. Die Sonne steht bereits tief am Horizont, als wir zwischen Schönwetterwolken und hoch über dichten Regenwäldern Richtung Lima fliegen. Nach vier Stunden landen wir dort sicher. Wieder bleibt mir kaum Zeit, um den Anschlussflug nach La Paz zu erwischen. Doch nachdem ich im Airbus A320 Platz genommen habe und das Flugzeug nicht starten will, fallen mir die Augen zu. Erst viel später, als mir das Kabinenpersonal ein Getränk und ein Sandwich reicht, wird mir bewusst, dass wir unterwegs nach La Paz sind.

Es ist nach Mitternacht, als wir auf dem Altiplano in El Alto landen. Es dauert gefühlt eine Ewigkeit, bis die Zöllner endlich den Stempel in meinen Pass setzen. Doch ich bin erleichtert, dass mein Gepäck angekommen ist, und nehme sofort ein Taxi zum Hotel Oberland in Mallasa. Nach 24-stündiger Reise erreiche ich mein Ziel um 2:00 Uhr morgens, wo mich der Nachtportier herzlich empfängt und direkt auf mein Zimmer begleitet.




Mallasa - Hotel Oberland - Freitag, 11. November

Walter, der Besitzer des Hotels und langjähriger Freund, ist überrascht, mich so früh am Morgen am Frühstücksbuffet zu sehen. Seit unserem letzten Treffen vor einem Jahr gibt es viel zu erzählen. Walter erwähnt, dass es in den vergangenen Wochen viel geregnet hat und die Flüsse entsprechend hoch stehen.

Nach dem Frühstück fahre ich mit einem Taxi ins Zentrum von La Paz. Dort besorge ich in einem Einkaufszentrum einige fehlende Lebensmittel und eine robuste Tasche, in der ich einen Teil meiner Vorräte transportieren kann. Meine geplante Wanderung führt mich von Icla bis zum südlichen Ende der Cordillera Mandinga und anschliessend zurück nach Ayurduy. Diese Reise wird etwa vier Wochen dauern. Um nicht alle Lebensmittel selbst tragen zu müssen, lasse ich die Tasche mit dem Bus von Sucre nach Azurduy transportieren. Dort wird sie an der Busstation sicher aufbewahrt, bis ich sie hoffentlich nach etwa drei Wochen abholen und meine Reise fortsetzen kann. Walter hat mir erzählt, dass auf diese Weise viele Waren transportiert und sicher bis zur Abholung gelagert werden.

Am Abend packe ich meinen Rucksack für den Flug nach Sucre am nächsten Morgen, geniesse ein köstliches Abendessen mit Walter und gehe früh schlafen.




Mallasa - Hotel Oberland - Samstag, 12. November

Ein letztes Mal für eine lange Zeit geniesse ich die wohlige Wärme der Dusche. Beim Frühstück erzählt mir Walter, dass er für einige Monate mit seiner Familie nach Costa Rica reisen wird. Er erwähnt auch, dass ein Franzose, ein langjähriger Freund aus La Paz, in der Zwischenzeit das Hotel übernehmen wird. Meine Sachen für die Heimreise kann ich im Handkoffer bei Walter zurücklassen.

Als ich mit dem Taxi zum Flughafen fahre, bin ich überrascht: Der Fahrer nutzt eine neu gebaute Strasse, die von Mallasa direkt auf das Altiplano führt - kürzer und schneller. Oben angekommen, stecken die umliegenden hohen Berge in den Wolken. Dennoch lässt sich erkennen, dass es in der Nacht bis auf etwa 4500 Meter heruntergeschneit hat.

Beim Einchecken zahle ich wegen der zusätzlichen Tasche acht Kilogramm Übergewicht. In der dreistrahligen Maschine bekomme ich einen Fensterplatz auf der linken Seite, mit Blick nach Osten auf die Berge. Kaum sind wir in der Luft, lockern sich die Wolken, und die mächtige Spitze des Nevado Illimani ragt majestätisch aus den Wolken hervor. Nach einer Stunde, stets mit Blick auf die hügelige Landschaft, landen wir sicher in Sucre.

Auf dem Weg mit dem Taxi in die Stadt halte ich an einer Tankstelle, um meine Benzinflasche für den Kocher zu füllen. Danach geht es direkt zu dem Ort, wo der Bus nach Azurduy fährt. Walter hat mir noch Klebeband mitgegeben, damit ich meine Adresse in grosser Schrift auf die Tasche kleben kann. Der Mann am Billettschalter versichert mir, dass die Tasche sicher in Azurduy ankommt und dort auch aufbewahrt wird - selbst, wenn ich sie erst in drei Wochen abhole.

Bus von Sucre nach Tarabuco

Ganz in der Nähe starten die Microbusse nach Tarabuco, und so erreiche ich den Ort bereits nach 90 Minuten Fahrt.

Wie vor einem Jahr bekomme ich ein Zimmer im Hostal Doña. Die Señora des Hauses erkennt mich sofort wieder. Da morgen der bekannte Sonntagsmarkt stattfindet, dürfte es schwierig sein, einen Transport nach Icla zu finden. Deshalb werde ich morgen zunächst den Markt besuchen und am Nachmittag schauen, ob sich ein fahrbarer Untersatz in Richtung Icla finden lässt, wenn die Besucher in ihre Dörfer zurückkehren.




Tarabuco - Sonntag, 13. November

Frühmorgens nutze ich die Toilette im Hinterhof und werde dabei unweigerlich daran erinnert, dass ich in Bolivien bin - das Wasser für die Spülung fehlt. Zum Glück steht ein gefülltes Regenfass in der Nähe, ausgestattet mit einem Eimer, der nicht nur fürs Spülen, sondern auch zum Waschen und Zähneputzen dient.

Das Frühstück ist eine wahre regionale Köstlichkeit: frischer Ziegenkäse, Spiegeleier und knuspriges, frisch gebackenes Brot. Währenddessen gesellt sich eine junge Frau aus Polen an meinen Tisch. Sie ist allein auf einer sechsmonatigen Reise durch Südamerika unterwegs. Ich erzähle ihr von meinem Vorhaben hier in Bolivien und gebe ihr einige hilfreiche Tipps und Informationen für ihre Weiterreise.

Später schlendern wir gemeinsam über den Markt, wo vor allem frisches, regionales Gemüse angeboten wird. Viele Menschen tragen traditionelle Kleidung der Yampara-Kultur, die diesem Ort seinen besonderen Charme verleiht.

Sonntagsmarkt in Tarabuco

In den verwinkelten Gassen stossen wir auf Läden und Marktstände, die eine Auswahl exquisiter Webarbeiten und kunstvoll gefertigter Textilien darbieten.

Farbenpracht beim Sonntagsmarkt in Tarabuco

(Mehr zur Yampara-Kultur findet sich beim Kulturfestival in Sucre, Etappe 7 und unter: Tarabuco)

Während die junge Polin noch nach einem passenden Souvenir sucht und wir uns verabschieden, nehme ich mir Zeit, die zahlreichen faszinierenden Motive dieses Ortes mit meiner Kamera festzuhalten.

Am Nachmittag beobachte ich, wie an der Plaza Leute auf einen Lastwagen steigen - anscheinend ein Transport nach Icla. Leider bin ich zu spät, und der Wagen fährt schon rappelvoll davon. Wann der nächste fährt, bleibt ungewiss, und so entscheide ich mich, noch eine weitere Nacht hier in Tarabuco zu verbringen. Beim Abendessen im Restaurant Hostal Doña informiert mich mein Sitznachbar, dass morgen gegen 7:00 Uhr ein Lastwagen nach Icla fahren wird.




Tarabuco - Montag, 14. November

Früh am Morgen setzte ich mich an den Frühstückstisch, und die Señora servierte mir bereits das Frühstück. Auf der Plaza waren Arbeiter eifrig damit beschäftigt, die Überreste des gestrigen Markttreibens zu beseitigen. Überall lagen abgebrochene Äste der Alleenbäume verstreut - ein stummer Nachhall des nächtlichen Hagelgewitters. Ich hatte tief und fest geschlafen und von diesem Spektakel nichts mitbekommen. Als ich bemerkte, dass auf der Plaza zwei Lastwagen beladen wurden, eilte ich dorthin, um zu fragen, wohin sie fahren würden. Leider fuhr eines der Fahrzeuge zwar in meine Richtung, jedoch nicht bis nach Icla. Etwas ratlos blieb ich zurück, ohne eine Antwort darauf, wann das nächste Fahrzeug bis zu meinem Ziel unterwegs sein würde.

Auf der Suche nach einem Fahrzeug das nach Icla fährt

Schliesslich fiel mir ein gepflegter Mann mittleren Alters auf, der seit geraumer Zeit vor einem Toyota Land Cruiser wartete. Ich sprach ihn an und fragte, ob er nach Icla fahre. Freundlich bejahte er und bot mir an, später mitzufahren. Er erklärte, er sei Tierarzt und habe sich mit zwei Kollegen zum Mittagessen verabredet. Diese würden ihn nach Icla begleiten, und es sei genug Platz für mich. Was für ein Glück!

Am frühen Nachmittag brachen wir bei herrlichem Wetter auf. Doch bald zeigte sich, dass das Unwetter der letzten Nacht der Strasse schwer zugesetzt hatte. Teilweise war sie kaum noch als solche zu erkennen, und ohne Allradantrieb wäre ein Weiterkommen unmöglich gewesen. Ich hatte grosses Glück, überhaupt nach Icla zu gelangen.

Angekommen wollte ich dem hilfsbereiten Tierarzt ein paar Geldscheine in die Hosentasche stecken, doch er lehnte dankend und bestimmt ab.

Landkarte: Icla - Tarvita - Azurduy - Rio Huancarani - Azurduy

Mein Abenteuer beginnt, und so wandere ich die glühend heisse Landstrasse entlang, talwärts dem Rio Icla folgend. Vereinzelt entdecke ich grosse Exemplare der Weingartia pilcomayensis, die wie kleine Wunder der Natur aus dem Boden ragen. An der Stelle, wo das breite, steinige Flussbett des Rio Coachile aus der Cordillera Mandinga ins Tal mündet, halte ich bei der Estancia Cuesta Khuchu an, um nach dem Weg zu fragen. Eine junge Frau, die gerade eifrig ihre Faltenröcke bügelt, erklärt mir ausführlich und mit einer gewissen Komplexität, wie ich am schnellsten Richtung Osten in die Berge gelange, ohne mich im dichten Akaziendickicht zu verirren.

Dank ihrer Wegbeschreibung finde ich bald einen stetig ansteigenden, gut erkennbaren Pfad, der mich entlang des Seitentals führt.

Ein Blick nach Westen, hinunter ins Tal von Icla, aus dem ich heraufgestiegen bin.

Im Jahr 2004 durchquerte ich den Gebirgszug im Hintergrund, als ich von Tarabuco zur Estancia Uyuni wanderte.

Die Erleichterung ist gross, als ich am späten Nachmittag einen kleinen Sattel erreiche, auf dem es ausreichend Platz gibt, um mein Zelt aufzuschlagen. Die Tatsache, dass ich heute Nachmittag mit schwerem Gepäck eine Strecke von über zehn Kilometern und vierhundert Höhenmetern bewältigt habe, bestätigt mir eindrucksvoll, dass ich hervorragend auf meine Reise vorbereitet bin.

Camp 1 Tag, östlich des Mündungsgebiets Rio Coachile - Rio Icla




Mündungsgebiet Rio Coachile - Rio Icla - Dienstag, 15. November, Camp 1. Tag

Die Nacht war kalt und windig, doch ich habe sie auf dem steinigen Boden erstaunlich gut überstanden. Eigentlich sollte mein Weg gegen Süden führen, doch stattdessen schlängelt er sich steil hinauf Richtung Osten. Während ich diesem Pfad folge, verliert er sich schliesslich im bewaldeten Gelände, bis nur noch vage Spuren sichtbar bleiben.

Blick nach Süden ins Tal des Rio Orito Mayu

Instinktiv setze ich meinen Weg fort, in der Hoffnung, wieder auf einen begehbaren Pfad zu stossen. In den höheren Lagen, wo das Gelände zunehmend steinig wird, entdecke ich vereinzelt Weingartia pilcomayensis und Cleistocacteen.

Nach einem anstrengenden Aufstieg von über tausend Höhenmetern erreiche ich die ersten Pflanzfelder der Estancia Rodeo und finde endlich einen gut begehbaren Weg.

Ein Blick nach Westen zeigt den beeindruckenden Cerro Pucara. Im Vordergrund erstrecken sich die Pflanzfelder der Estancia Rodeo.

Ich folge ihm und erblicke am Nachmittag das Schulgelände von Rodeo tief unter mir. Auf 3500 Metern Höhe ist es kalt, windig, und leichter Regen setzt ein. Um Schutz zu suchen, betrete ich das Schulhaus und frage, ob ich hier irgendwo übernachten kann.

Estancia Rodeo, Blick nach Süden mit dem mächtigen Cerro Cantargallo

Die Lehrerin, die gemeinsam mit einer Kollegin über hundert Schüler betreut, empfängt mich herzlich. Sie führt mich in eines der Klassenzimmer und lächelt: "Ist das okay für dich zum Schlafen, Gringo?" Dabei grinst sie leicht und fügt hinzu: "Weisst du, Gringo, ich habe dich vor einem Jahr etwas weiter südlich in Santa Lucia gesehen, als du dort an der Schule vorbeigelaufen bist." Ich bin erstaunt über ihre Worte, die jedoch absolut korrekt sind. Tatsächlich bin ich dort vorbeigekommen, als ich ganz in der Nähe die Sulcorebutia juckeri HJ 1108 zum ersten Mal entdeckt habe.

Wir plaudern noch eine Weile, während ich draussen vor der Tür eine warme Mahlzeit zubereite.




Estancia Rodeo - Mittwoch, 16. November, Camp 2. Tag

Die Sterne leuchten immer noch, als ich draussen ein herzliches "Buenos días, Gringo!" höre. Es ist die fröhliche Lehrerin von gestern. Wir unterhalten uns noch eine Weile, und als Dank schenke ich ihr Süssigkeiten für ihre Kinder.

Später führt mein Weg nach Südosten steil hinab in das Seitental des Río Angostura, das fünfhundert Meter tiefer liegt. Unterwegs begegne ich immer wieder Kindern, die auf dem Weg zur Schule in Rodeo sind. In der kargen Landschaft leuchten vereinzelt rote Farbtupfer - die Blüten der Austorcylinderopuntia sahferi, die mit ihrem zarten Glanz die Einöde beleben.

Ausrocylinderopuntia sahferi
Estancia Rodeo, 3´800 m, Cord. Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien 2005, Blick nach Süden, zum Cerro Jatun Palma

Trotz des böigen, kalten Winds gönne ich mir im Talboden ein Bad im eiskalten Pool. Frisch gestärkt und mit sauberem Wasser ausgerüstet setze ich meinen Weg auf der anderen Talseite fort. Am späten Nachmittag erreiche ich schliesslich das verstreute Siedlungsgebiet der Estancia Jatun Huasi, das unterhalb der Passhöhe liegt.

Auf über 3600 Metern entdecke ich vereinzelt Lobivia chrysochete, die HJ 1143, die zwischen dem steinigen Gelände gedeihen.

Lobivia chrysochete
Estancia Jatun Huasi, 3´600 m, Cord. Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien 2005, Blick nach Osten zum Cerro Cantargallo

Beim Schulhaus, wo gerade eifrig ein weiteres Gebäude für die wachsende Schule errichtet wird, treffe ich den Lehrer. Er erzählt, dass dringend ein neues Schulhaus gebraucht wird, da die Zahl der Kinder in der Region rapide zunimmt. Auch dieser Lehrer ist äusserst freundlich. Als ich ihn frage, ob ich mein Zelt für die Nacht dort aufstellen könne, zeigen sich alle Anwesenden begeistert. Ihre Freude ist so gross, dass mich die sechsköpfige Familie samt Grosseltern zu einem gemeinsamen Gemüsetopf einlädt.

Estancia Jatun Huasi, Camp 3. Tag




Estancia Jatun Huasi - Donnerstag, 17. November, Camp 3. Tag

Der Tag bricht nur zögerlich an, als plötzlich Stimmen vor dem Zelt erklingen. Die Dorfbewohner sind neugierig und möchten wissen, wie es sich in einem so kleinen Zuhause lebt. Mit jeder ungewöhnlichen Sache, die sie beim Einpacken entdecken, stellen sie neugierige Fragen: "Was ist das?" und "Wofür benutzt man das?" Besonders beeindruckt sind sie davon, wie schnell mein kleiner Benzinkocher Wasser zum Kochen bringt.

Das Gelände in Richtung des Passes steigt nun sanft an. Schon bald wandere ich durch eine felsige Landschaft, die von locker wachsenden Polylepis tomentella-Bäumen geprägt ist. Während eines Rundgangs entdecke ich in den Felsen eine zwergwüchsige Aylostera, die HJ 1144. Sie weist eine auffallende Ähnlichkeit mit der Aylostera atrovirens fa. HJ 407 auf, die ich 1993 in der Cordillera Mandinga nahe Cuchca Cancha gefunden habe. Doch das langsame Wachstum der Sämlinge in Kultur sowie die ausgewachsene kleine Grösse haben gezeigt, dass diese Pflanze zum Formenkreis der Aylostera pygmaea gehört.

HJ 1144 Aylostera pygmaea fa.
1 km nördlich Estancia Cantar Gallo, 3´540 m, Cord. Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

HJ 1144 Aylostera pygmaea
Kulturpflanzen: Klon 3, 4, 10, 11 und 2x 15

Es ist später Morgen, und die Sonne brennt wie ein glühendes Brennglas, als ich ein idyllisches Seitental erreiche. Ein klarer Gebirgsbach plätschert gemächlich über die Steine, ein beruhigendes Lied der Natur. Trotz des eiskalten Wassers kann ich der Verlockung nicht widerstehen. Mit meinem Kaffeebecher schöpfe ich das kristallklare Nass und lasse es über meinen Körper fliessen - eine wohltuende Erfrischung.

Doch bald darauf wird der Weg beschwerlich, denn die Vielzahl kleiner Pfade macht es schwierig, die richtige Route zu finden. Meine Wanderung führt mich über Kartoffelfelder und über alte Steinmauern, bis ich mich plötzlich auf einer Strasse wiederfinde. Würde ich dieser Strasse nach Osten folgen, so käme ich ins Hochtal von Huayllas, wo ich 1993 erstmals die HJ 407 Suclorebutia cantargolloensis entdeckte. Doch stattdessen lenke ich meinen Weg nach Süden und erreiche die Estancia Cantar Gallo, ein kleines Anwesen mit mehreren Häusern und einem grossen Schulkomplex, der zur Siesta Zeit wie ausgestorben erscheint.

Estancia Cantar Gallo, Blick nach Norden

Von dort wandere ich auf einem gut begehbaren Weg weiter nach Süden entlang des Cerro Cantargallo. Am späten Nachmittag erreiche ich einen flachen Sattel, der einen atemberaubenden Blick nach Süden in die Region von Santa Lucia bietet. Hier finde ich ideale Möglichkeiten zum Campen. Auch eröffnet sich eine herrliche Aussicht auf den südlich gelegenen Cerro Llave Khasa, wo ich 2004 den Standort der HJ 1108 Suclorebutia juckeri entdeckte.

Nördlich Santa Lucia, Blick nach Norden und Süden, Camp 4. Tag




Nördlich Estancia Santa Lucia - Freitag, 18. November, Camp 4. Tag

Die sternenklare Nacht liegt hinter mir, das Zelt ist feucht vom Tau. Dennoch mache ich mich frühzeitig reisefertig, entschlossen, mein heutiges Ziel, den Cerro Colorado, zu erreichen. Schon bald erreiche ich die Weggabelung, die nach Santa Lucia führt. Ich entscheide mich jedoch für den anderen Pfad, der über einen Sattel am Nordende des Cerro Llave Khasa führt und schliesslich in einen zauberhaften Palmenwald mündet - eine Heimat der majestätischen Parajubaea torallyi.

Dieser Pfad ist ein alter Inkaweg, den ich bereits 2004 von Soroma nach Santa Lucia erkundet habe. Doch auch bei meinem zweiten Besuch verliert dieser wundervolle Ort nichts von seiner Magie. Es bleibt ein unvergleichliches Naturwunder. Die Janchicoco-Palme (Parajubaea torallyi) ist eine beeindruckende, seltene Palmenart, die in Höhenlagen bis 3000 Metern gedeiht. Sie erreicht eine stattliche Höhe von bis zu 14 Metern, und ihre imposanten Wedel messen zwischen 4,5 und 5 Metern.

Die Parajubaea torallyi gilt laut IUCN als stark gefährdet. Viele ihrer Exemplare wachsen isoliert und bilden keine Früchte aus - ein Umstand, der das natürliche Aufkommen von Jungpflanzen äusserst selten macht.

Janchicoco-Palme (Parajubaea torallyi), Familie der Palmengewächse (Arecaceae)
Cerro Lave Khasa, 3´000 m-3´200 m, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

Beim Abstieg durch den Palmenwald geniesse ich jeden atemberaubenden Ausblick auf diese zauberhafte Natur. Im Schatten einer Gruppe majestätischer Palmen lasse ich mich nieder, frühstücke in aller Ruhe und beobachte, wie sich grün-rote Papageien in lautem Geschrei immer wieder in den Baumkronen niederlassen. Später erreiche ich ein sanftes, weites Tal, wo der Bauer der Estancia Ruditayoi gerade sein Feld pflügt. Der Pfad wird hier beinahe unsichtbar, und so frage ich den alten, wettergegerbten Mann nach dem Weg zum Cerro Colorado. Mit einem freundlichen Nicken bestätigt er nicht nur den Weg, sondern auch, dass ich auf dem Berg Wasser finden werde.

Estancia Ruditayoi, am Cerro Colorado

Die gnadenlose Mittagssonne zwingt mich, selbst unter den kleinsten Akaziensträuchern Zuflucht zu suchen. Trotz der sengenden Hitze nehme ich mir immer wieder die Zeit, die auffälligen blühenden Gruppen von Opuntia sulphurea zu fotografieren, die mit ihrem strahlenden Gelb im kargen roten Sandstein nicht zu übersehen sind.

Opuntia sulphurea
Cerro Llave Khasa, 3´000 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

Der östliche Teil des Cerro Colorado zeichnet sich durch ein überwiegend flaches, sanft hügeliges Gelände aus, dessen rot-sandiger Boden von spärlichem Grasbewuchs durchsetzt ist.

Während eines längeren Rundgangs stosse ich auf eindrucksvolle Exemplare der Weingartia HJ 1145. Die bis zu 12 cm dicken Pflanzen beeindrucken durch ihre wulstigen Rippen, die mit mässigem Filz an den Areolen bedeckt sind, sowie durch ihre kräftigen Dornen, die in alle Richtungen weisen - seitlich, nach unten und nach oben. Zu meiner Überraschung entdecke ich an einigen Pflanzen im Schulterbereich rote Knospen, ein vielversprechendes Indiz für tiefrote Blüten. Diese Vermutung bestätigte sich schliesslich, als aus Samen gezogene Pflanzen in Kultur zum ersten Mal ihre Blüten öffneten: Das Farbspektrum reichte von dunklem Gelborangerot über leuchtendes Orange bis hin zu intensivem Rot.

Die Weingartia HJ 1145 ist eine neue Art und verdankt ihren Namen dem Cerro Colorado, dem Berg, in dessen Umgebung sie beheimatet ist. Weitere Details zur Beschreibung finden du in der Jucker-Literatur.

Diers, L. & Jucker, H. (2013): Weingartia coloradensis, eine neue Art aus dem östlichen Pilcomayo-Gebiet, Gymnocalycium 26: 1077-1084.



HJ 1145 Weingartia coloradensis
Cerro Colorado, 3´080 m-3´200 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

HJ 1145 Weingartia coloradensis
Kulturpflanzen: Klon 1, 2, 3, 4, 6, 10

HJ 1145 Weingartia coloradensis
Kulturpflanzen: Klon 11, 16, 23, 31, und 38

Auf meinem Weg zum Südende des Cerro Colorado entdecke ich immer wieder vereinzelte Exemplare der Weingartia coloradensis, die häufig in Gesellschaft von Opuntia sulphurea, Austrocylinderopuntia sahferi und Lobivia cinnaberina anzutreffen sind. Am späten Nachmittag hatte ich das grosse Glück, in einem felsigen Einschnitt ein kleines, sauber Bächlein zu finden. Nicht weit davon entfernt, etwas höher gelegen im flachen Gras, stiess ich auf einen idealen Platz für mein Nachtlager. Mein erfolgreicher Tag fand nicht ohne Herausforderungen seinen Ausklang. Stürmische, kalte Böen und ein leichter Regen, ausgelöst durch ein nahes Gewitter, erschwerten den Aufbau des Zeltes erheblich. Doch schon bald liess der Spuk nach, und ich konnte mich an einer wärmenden Mahlzeit erfreuen: Kartoffelstock mit Gemüse.

Am Südende des Cerro Colorado, Camp 5. Tag




Cerro Colorado - Samstag, 19. November, Camp 5. Tag

Als ich früh am Morgen meinen Kopf in die frische Luft strecke, empfängt mich dichter Nebel - oder sind es schwere Wolken? Kaum habe ich mich gefragt, setzt auch schon ein feiner Regen ein. Ich frühstücke zunächst gemütlich und bereite mich anschliessend so gut es geht im schützenden Zelt auf den Aufbruch vor. Während ich schliesslich bei leichtem Nieselregen losmarschiere, treiben die dicken Wolken weiterhin gespenstisch zwischen den Felsen umher. Der Pfad, trotz der trüben Sicht gut zu erkennen, zieht sich stetig bergauf bis zur Passhöhe.

Unerwartet fegen heftige thermische Winde gegen mich, zerzausen die Wolken und lassen sie chaotisch tanzen. Als ich endlich den Pass erreiche, breitet sich vor meinen Augen ein kristallklarer, atemberaubender Blick gegen Süden aus - hinab in das majestätische Tal des Río Pilcomayo.

Blick vom Cerro Colorado nach Süden ins Tal des Rio Pilcomayo

Mein Weg führt von hier über steil abfallende Bergflanken hinab in das tausend Meter tiefer gelegene Tal des Río Molle Punco. Gleich zu Beginn entdecke ich zwischen den Felsen eine Form von Aylostera fiebrigii die kleine Polster bilden, die HJ 1146.



HJ 1146 Aylostera fiebrigii fa.
Cerro Colorado, 3´070 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien,
Blick nach Westen zum Cerro Colorado Punta und nach Süden ins Tal des Rio Pilcomayo

HJ 1146 Aylostera fiebrigii
Kulturpflanze: Klon 2

In der wärmenden Sonne, die die steilen Bergflanken durchflutet, haben sich die leuchtend roten Blüten der verzweigten Austrocylindropuntia shaferi prachtvoll geöffnet.

Blick ins Tal des Rio Pilcomayo

Austorcylinderopuntia shaferi
Cerro Colorado, 2´900 m Cord. Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

Beim Abstieg über roten Sandstein und gefestigten Sand entdecke ich, eingebettet zwischen Gräsern, Moospolstern und Flechten, zu meiner Überraschung kleinwüchsige, teils pectinat bedornte Sulcorebutia juckeri (HJ 1147), von denen einige kaum fünf Zentimeter dick sind. Wie auf dem Landschaftsbild zu erkennen, konnte ich auf meiner Wanderung weiter südöstlich zusätzliche Standorte der Sulcorebutia juckeri lokalisieren, darunter HJ 1150 sowie HJ 1150a.

Blick nach Südosten zu den (Sulcorebutia juckeri)-Standorten HJ 1150 und HJ 1150a

HJ 1147 Sulcorebutia juckeri
Cerro Colorado, 3´012 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

Blick nach Südwesten zum Standort HJ 1113

Die Überraschung war gross, als die aus Samen herangewachsenen Pflanzen viele Jahre später zum ersten Mal zu blühen begannen. Beeindruckend waren nicht nur die vielfältigen Erscheinungsformen der verschiedenen Taxa, von lang bis pectinat bedornt, sondern auch das unterschiedliche Grössenwachstum der Pflanzen sowie die beeindruckende Vielfalt der Blütenfarben, die Mischungen von Gelb bis Rot zeigten.

HJ 1147 Sulcorebutia juckeri
Kulturpflanzen: Klon 1, 4, 5, 6, 7, 13
Cerro Colorado, 3´012 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

Kulturpflanzen: Klon 16, 20, 21, 22, 23, 24

Kulturpflanzen: Klon 26, 30, 34 und 35.

Die Nachmittagssonne brennt unerbittlich, und ich bin erleichtert, als ich beim weiteren Abstieg auf ein verlassenes Haus stosse, das von einer grossen Akazie mit wohltuendem Schatten flankiert wird. Während ich gemütlich mein Picknick geniesse, erscheint ein älterer Mann, der einen Stier führt. Er erzählt mir, dass er aus dem Tal unten kommt und auf dem Weg nach Soroma ist, um das Tier dort zu verkaufen. Als ich anmerke, dass es immerhin zwei Tagesmärsche dorthin seien, lacht er nur, nickt und setzt seinen Weg fort.

Kaum habe ich mich wieder an den sehr steilen Abstieg gewagt, erwartet mich die nächste Überraschung: ein weiterer Fundort der Sulcorebutia juckeri HJ 1147a. Die winzigen Pflanzen verstecken sich teils geschickt im rötlich sandigen Boden, zurückgezogen und unscheinbar. Die meisten wachsen einzeln und zeigen - wie die zuletzt entdeckten Exemplare - meist eine sehr kurze, anliegende Bedornung, mal mit, mal ohne Mitteldorn.

Blick ins Mündungsgebiet Rio Molle Punco - Rio Pilcomayo und zum Typstandort der HJ 410 Sulcorebutia juckeri und ins Tal des Rio Molle Punco

HJ 1147a Sulcorebutia juckeri
Cerro Colorado, 2´800 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien,

HJ 1147a Sulcorebutia juckeri
Kulturpflanzen: Klon 4, 5, 7, 30, 32 und 42

In den Felsen gehauen windet sich der Pfad steil und serpentinenartig hinab ins Tal. In einem lichten, von Bäumen durchzogenen Gelände treffe ich auf einen Mann, der ein gewaltiges Bündel Holz auf dem Rücken trägt. Die Last ist so schwer, dass er sich nur gebückt vorwärtsbewegen kann.

Als wir uns begegnen, bleibt er stehen, richtet sich mühsam auf, blickt mir direkt in die Augen und sagt: "Hey Gringo, dich kenne ich doch! Vor einem Jahr habe ich dich spätabends besucht, als du hier in der Nähe im Flussbett gezeltet hast. Erinnerst du dich?" "Natürlich erinnere ich mich", antworte ich, "aber ich hätte dich wohl nicht gleich erkannt." Er lacht leise. "Für mich ist es einfacher, mich zu erinnern. Hier draussen in der Abgeschiedenheit begegnet man nicht jeden Tag einem Gringo."

Blick ins Tal des Rio Molle Punco, im Hintergrund die Estancia Khara Kharoyo

"Da hast du recht, Amigo", sage ich schmunzelnd. Eduardo - so heisst der Mann - lädt mich ein, diesmal vor seinem Haus zu campieren. "Dort ist es flach, und Wasser gibt es auch." Dankbar nehme ich sein grosszügiges Angebot an. Später schenkt er mir Zitrusfrüchte aus seinem tropischen Garten hinter dem Haus.

Drinnen herrscht dichter Rauch, als ob es brennen würde. Eduardos Frau sitzt am Boden und kocht über einem offenen Feuer. Es gibt weder Stühle noch einen Tisch; das Leben spielt sich hier komplett auf dem Boden ab. Aus Dankbarkeit gebe ich der Frau etwas Geld, damit sie für ihre drei Kinder Kleidung kaufen kann, wenn sie irgendwann in die Stadt geht. Den Kindern schenke ich je einen Schokoriegel - etwas, das sie noch nie probiert haben. Ihre strahlenden Gesichter sind unvergesslich.

Besuch auf der Estancia Khara Kharoyo - im Hintergrund der Standort der Sulcorebutia juckeri HJ 1147a

Später, als ich im Zelt sitze und Tagebuch schreibe, bringt mir die Frau einen Teller gekochter Maiskörner und drei gekochte Eier. Was für eine unglaubliche Gastfreundschaft, obwohl die Familie kaum das Nötigste zum Leben hat.




Estancia Khara Kharoyo, am Rio Molle Punco - Sonntag, 20. November, Camp 6. Tag

Es ist früh am Morgen, die Sterne funkeln noch am Himmel, während ich an einer heissen Suppe schlürfe. Von draussen dringt ein herzliches "¡Buenas días!" an mein Ohr. Es ist Eduardo, der sich von mir verabschieden möchte. Er ist mit einem beladenen Maultier und einem Esel unterwegs in die Berge nach Chunca Cancha, wo er auf dem Markt seine tropischen Früchte verkaufen will: Mangos, Papayas, Avocados und diese saftigen, leicht süsslichen Tomaten, die ich gestern kosten durfte.

Auch ich mache mich reisefertig, in der Hoffnung, den tausend Meter hohen Aufstieg zur Estancia Trancas heute zu bewältigen. Mein Weg führt steil hinauf in ein Seitental. Dort, zwischen den Felsen, entdecke ich kleine Pools, perfekt für eine erfrischende Pause. Während ich die felsige Landschaft zwischen Gräsern und niedrigen Büschen nach Kakteen absuche, ziehen plötzlich leuchtend rote Blüten meine Aufmerksamkeit auf sich. Es sind die Blüten der Lobivia krahn-juckeri, die HJ 1148, die ich bereits mehrfach westlich des Río Pilcomayo und entlang des Río Turuchipa gefunden habe. Neu ist jedoch, dass diese Pflanzen auch östlich des grossen Flusses, in der Cordillera Mandinga, vorkommen. Die Art wurde von Prof. Diers, 2009, in Kakteen und andere Sukklulenten erstbeschrieben, siehe auch unter Jucker Literatur ?

Blick nach Norden zum Cerro Colorado

HJ 1148 Lobivia krahn-juckeri
3km südöstlich Estancia Trancas, 2´700 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

HJ 1148 Lobivia krahn-juckeri
Kulturpflanzen: Klon 1, 2, 3, 4, 5 und 7

Langsam steige ich weiter den kleinen Taleinschnitt hinauf, die brennende Morgensonne im Nacken. Dankbar suche ich Schutz unter jeder noch so kleinen Akazie, die ihren Schatten spendet. Immer wieder entdecke ich einzelne Exemplare der Weingartia pilcomayensis, deren gelbe Blüten leuchtend aus der Landschaft hervorstechen. Doch plötzlich bleibe ich erstaunt stehen: Ich erblicke eine Pflanze mit orangeroten Blüten! Mein erster Gedanke ist, dass es sich um eine Hybridpflanze handeln könnte, entstanden durch Kreuzungen mit anderen Arten aus der Region. Doch in diesem Gebiet gedeihen keine weiteren Weingartien-Arten. Ich hatte gehofft, dass die aus den Samen gezogenen Pflanzen Blüten in verschiedenen Farben hervorbringen würden, doch sie zeigten ausnahmslos nur gelbe Blüten.

Blick ins Tal des Rio Molle Punco mit Cerro Lave Khasa

HJ 1149 Weingartia pilcomayensis, (neocumingii)
3km südöstlich Estancia Trancas, 2´800 m Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

HJ 1149 Weingartia pilcomayensis, (neocumingii)
Kulturpflanzen: Klon 2 und 5

Der Weg weiter ist stellenweise durch Erosionen blockiert, und schliesslich verliere ich ihn komplett. Also bahne ich mir meinen eigenen Weg. Nach einigen mühsamen Höhenmetern erreiche ich eine Kuppe und stosse dort auf eine weitere Population von Sulcorebutia juckeri, die HJ 1150. Im Vergleich zu der zuletzt entdeckten Population von Sulcorebutia juckeri sind diese Pflanzen grösser, weisen jedoch überwiegend kurze Dornen auf. Die Blütenfarben der aus Samen gezogenen Pflanzen reichen von Rot bis zu Mischfarben zwischen Gelb und Rot, aber sie sind niemals rein Gelb.

HJ 1150 Sulcorebutia juckeri
1 km südlich Estancia Trancas, 2´920 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

HJ 1150 Sulcorebutia juckeri
Kulturpflanzen: Klon 5, 14, 15, 16, 21, 27 und 32

HJ 1150 Sulcorebutia juckeri
Kulturpflanzen: Klon 42, 45, 52, 53, 59, 61 und 62

Bei der Untersuchung des Standorts von Sulcorebutia juckeri HJ 1150 habe ich mit Freude genau das entdeckt, wonach ich zuvor am Standort der Weingartia pilcomayensis HJ 1149 gesucht hatte: eine Kontaktzone zwischen zwei verwandten Gattungen, Weingartia x Sulcorebutia. Zwischen den zahlreichen Sulcorebutia juckeri-Pflanzen gedeihen vereinzelt auch Exemplare der Weingartia pilcomayensis HJ 1152, die jedoch nicht mehr als Art rein gelten können. Zwar entsprechen ihre Blütenfarbe und ihr Erscheinungsbild im Scheitelbereich weitgehend der Weingartia pilcomayensis, doch der flachere Habitus, der spärliche Filz an den Areolen und die zierliche, kurze Bedornung ähneln stärker der Sulcorebutia juckeri. Bei dieser Hybridform ist die Blütenröhre zudem weniger trichterförmig und ähnelt in ihrer Gestalt der Blütenröhre von Sulcorebutia juckeri.

HJ 1152 Weingartia pilcomayensis x HJ 1150 Sulcorebutia juckeri
Standort wie Sulcorebutia juckeri HJ 1150
1 km südlich Estancia Trancas, 2´920 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

Von der möglichen Weingartia-Sulcorebutia-Mischform HJ 1152 gelang es mir nach langem Suchen, einige wenige Samen aus einer aufgeplatzten Frucht des Vorjahres zu sammeln. Als die daraus gezogenen Pflanzen in Kultur ihr ausgewachsenes Alter erreichten, musste ich jedoch feststellen, dass sie keine oder nur geringfügige Unterschiede zur HJ 1149 Weingartia pilcomayensis aufwiesen.

HJ 1152 Weingartia pilcomayensis x HJ 1150 Sulcorebutia juckeri
Kulturpflanzen: Klon 1, 2, und 3

Ich war weiterhin überzeugt, dass sich die HJ 1150 Sulcorebutia juckeri mit der am selben Standort vorkommenden HJ 1152 Weingartia pilcomayensis gekreuzt hat. Um diese Hypothese zu überprüfen, führte ich eine kontrollierte und äusserst erfolgreiche gegenseitige Bestäubung beider Gattungen durch - mit bemerkenswerten Ergebnissen. Der Habitus der Hybridpflanzen, sowohl von S. HJ 1150 x W. HJ 1152 als auch von Weingartia HJ 1152 x Sulcorebutia HJ 1150, ähnelt stark der HJ 1150 Sulcorebutia juckeri, ebenso der Aufbau und die Farbgebung der Blüten. Auffällig ist jedoch, dass die Blüten überwiegend im äusseren Scheitelbereich erscheinen und nur selten seitlich am Körper, ein Merkmal, das typisch für die Gattung Weingartia ist. Auch die Form und Grösse der Areolen sowie das Erscheinungsbild der Dornen zeigen Ähnlichkeiten zur HJ 1150, wobei die Dornen in der Regel etwas länger und deutlich kräftiger sind. Eine genaue Betrachtung der Areolen offenbart bei einigen Exemplaren zudem einen leichten Filz, ein weiteres charakteristisches Merkmal der Weingartia.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diese Hybridpflanzen sowohl Merkmale von Sulcorebutia als auch von Weingartia aufweisen. Einzig der Klon HJ 1152 x HJ 1150-1, der grosse Blüten aus schmalen, tiefen Areolen trägt, zeigt klar, dass es sich um eine typische Sulcorebutia juckeri handelt. Typische Merkmale der HJ 1152 Weingartia pilcomayensis hingegen sind in diesen Hybridformen kaum noch erkennbar.

HJ 1150 Sulcorebutia juckeri x HJ 1152 Weingartia pilcomayensis
Kulturpflanzen: Klon 1, 2, 3, und 5
Standort wie Sulcorebutia HJ 1150, 1 km südlich Estancia Trancas, 2´920 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

HJ 1152 Weingartia pilcomayensis x HJ 1150 Sulcorebutia juckeri
Kulturpflanzen: Klon 1 und 2
Standort wie Sulcorebutia HJ 1150, 1 km südlich Estancia Trancas, 2´920 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

Ein identisches Ergebnis zeigt die Kreuzung aus Sulcorebutia HJ 1150 x Weingartia pilcomayensis HJ 1149. Sowohl Habitus als auch Blüten weisen deutliche Merkmale von Sulcorebutia juckeri HJ 1150 auf.

HJ 1150 Sulcorebutia juckeri x HJ 1149 Weingartia pilcomayensis
Kulturpflanze: Klon 1
Standort wie S. HJ 1150, 1 km südlich Estancia Trancas, 2´920 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

Nach diesen Erkenntnissen stellte sich mir die Frage, ob Sulcorebutia juckeri überhaupt zu den Sulcorebutien gehört oder ob sie korrekterweise der Gattung Weingartia zuzuordnen wäre. Um dies herauszufinden, führte ich Kreuzungsversuche durch, darunter eine gegenseitige Bestäubung von HJ 1150 Sulcorebutia juckeri x HJ 1151 Sulcorebutia azurduyensis var. sormae, die etwas weiter südlich vorkommt. Das Ergebnis war enttäuschend: Bei beiden Pflanzen wurden keine Früchte angesetzt. Anschliessend unternahm ich weitere Kreuzungsversuche mit HJ 1147 Sulcorebutia juckeri und anderen Sulcorebutien aus der weiteren Umgebung. Auch hier zeigte sich, dass die Befruchtung nur mässig bis gar nicht funktionierte. Die meisten Pflanzen beider Seiten entwickelten entweder keine oder nur wenige Früchte mit minimalem Samenansatz, der kaum oder nur teilweise keimte.

Die vorliegenden Ergebnisse legen nahe, dass Sulcorebutia juckeri zumindest genetisch der Gattung Weingartia zugeordnet werden muss - trotz zahlreicher morphologischer Merkmale, die dagegen sprechen. Die Herkunft dieser aussergewöhnlichen Pflanze bleibt jedoch weiterhin ungeklärt.

Die Nacht bricht herein, und meine Suche nach einem geeigneten, flachen Platz für mein Zelt bleibt erfolglos. Schliesslich stosse ich auf den Weg, den ich 1993 von Cuncha Cancha nach Süden gewandert bin. Spontan entscheide ich mich, ein Stück nach Norden zur Schule der Estancia Trancas zu gehen - jenem Ort, wo ich 2003 mit einer Lungenentzündung den Lehrer um Hilfe bat. Doch heute, an diesem Sonntag, finde ich dort niemanden vor. Der Fussballplatz vor dem Schulhaus erweist sich jedoch als perfekt: ein idealer Platz für mein Nachtlager, ergänzt durch eine traumhafte Aussicht.

Estancia Trancas, Camp 7 Tag

Nach Westen ragt das imposante Gebirgsmassiv des Cerro Colorado empor, und die Standorte der Sulcorebutia juckeri zeigen sich deutlich sichtbar in seiner Landschaft.

Blick nach Wesen ins Gebirgsmassiv des Cerro Colorado mit den Standorten HJ 1108, HJ 1109, HJ 1147 Sulcorebutia juckeri und HJ 1145 Weingartia coloradensis




Estancia Trancas, Cordillera - Montag, 21. November, Camp 7. Tag

Die Silhouetten am Horizont färben sich in sanfte Rottöne, während ich mich früh am Morgen auf den Weg nach Süden mache. Immer wieder stosse ich auf einzelne Exemplare von Sulcorebutia juckeri, durchquere einen dichten Polylepiswald und stehe schliesslich vor einem steilen, felsigen Abgrund. Von hier aus eröffnet sich ein weiter Blick nach Süden auf die verstreut liegenden Pflanzfelder der Estancia Una Huantana. In diesem weitläufigen, U-förmigen Terrain, wo sich im Osten die Berge bis auf imposante 4000 Meter erheben und kleine Täler tief in die Landschaft eingeschnitten sind, befindet sich das Hauptverbreitungsgebiet der Sulcorebutia azurduyensis var. sormae - eine Art, die ich 1993 in dieser Region erstmals entdeckt habe. Infos darüber in Etappe 09 und Jucker Literatur.

Im Jahr 1993 entdeckte ich eher zufällig einen einzelnen Standort, doch jetzt möchte ich die Gelegenheit nutzen, das vor mir liegende Gelände ausführlich zu erkunden. Von meinem Aussichtspunkt oben kann ich bereits meinen Weg ausmachen - er zieht sich oberhalb der Estancia Una Huantana über einen steinigen Kamm nach Osten und führt in höhere Gebirgslagen. Schon gleich zu Beginn, in einem kargen, steinigen Gelände mit nur spärlichem Grasbewuchs, erlebe ich die erste Überraschung: ein weiterer Standort der Sulcorebutia juckeri - die HJ 1150b. Mit solch einer Entdeckung hätte ich an diesem Tag nicht gerechnet.

HJ 1150b Sulcorebutia juckeri
Cancha Pampa, Estancia Una Huantana, 3´380 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

HJ 1150b Sulcorebutia juckeri
Kulturpflanzen: Klon 1, 3, 28, 30 und 81

Kaum habe ich meinen schweren Rucksack wieder auf den Rücken geschultert, erwartet mich hundert Höhenmeter weiter oben, in ebenso schroffem Gelände, die nächste Überraschung. Diesmal jedoch eine vorhersehbare, aber nicht weniger beeindruckende: wundervoll dunkelgrüne Sulcorebutia azurduyensis var. sormae, die sich kunstvoll zwischen den Steinen eingekeilt haben.


HJ 1151 Sulcorebutia azurduyensis var. sormae
Cancha Pampa, 2 km nordöstlich Estancia Una Huantana, 3´506 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

HJ 1151 Sulcorebutia azurduyensis var. sormae
Kulturpflanzen: Klon 1, 4, 5 und 7

Es ist bereits spät, als ich eine spärlich bewachsene Hochgebirgslandschaft auf 3800 Metern erreiche. Campingmöglichkeiten gibt es hier ausreichend, doch von Wasser fehlt jede Spur. Also mache ich mich auf die Suche - und tatsächlich entdecke ich in dieser kargen Höhe vereinzelte Wasserpfützen. Es sind die quakenden Frösche, die mich auf sie aufmerksam machen. Doch nicht nur die Frösche scheinen sich hier oben wohlzufühlen: Im nährstoffreichen, schwarzen, moorhaltigen Humusboden gedeihen üppige, grosse Polster von Sulcorebutia azurduyensis var. sormae, die HJ 1151b. Die frostigen nächtlichen Temperaturen verleihen den Pflanzen eine tiefdunkle, beinahe schwarze Körperfarbe, die sie tagsüber optimal dazu nutzen können, sich in der Sonne aufzuwärmen.

HJ 1151b Sulcorebutia azurduyensis var. sormae
Cerro Cruz Punta, 4 km nordöstlich Estancia Una Huantana, 3´827 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

HJ 1151b Sulcorebutia azurduyensis var. sormae
Kulturbilder: Klon 2, 3, 4, 5 und 6




Am Cerro Cruz Punta - Dienstag, 22. November, Camp 8. Tag

Ich hatte es schon geahnt: Es würde eine kalte, sternenklare Nacht werden. Deshalb habe ich in langen Unterhosen, dicken Socken und einer Fleecejacke geschlafen. Am Morgen ist das Zelt von Reif überzogen, und mein erster Gedanke gilt einer Thermosflasche voll heissem Tee, während ich auf die wärmende Sonne warte. Das steinige Gelände steigt nur noch sanft an und führt später durch einen wilden, knorrigen Polylepis tomentella-Wald - eine Rosengewächsart, die von den Einheimischen quiñoa oder keiño genannt wird.

Polylepis tomentella-Wald
Eine Rosengewächsart, die von den Einheimischen quiñoa oder keiño genannt wird.
Cerro Cruz Punta, 4 km nordöstlich Estancia Una Huantana, 3´827 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

Der Weg führt jetzt durch weite Graslandschaften und karg bewachsene Steinwüsten. Und dann, genau dort, begegnen sie einem erneut: die Sulcorebutien. In solchen Mengen, dass man beinahe darauf zu treten gezwungen ist. Doch auf dem mageren, mineralreichen Boden bleibt diese Population, HJ 1153, meist kleiner, behält aber ihre charakteristische dunkle Färbung.

In der Nähe gibt es eine Strassengabelung. Der eine Weg führt nach Norden ins Hochtal von Huayllas, wo ich 1993 erstmals die HJ 407 Sulcorebutia cantargolloensis entdeckte. Der andere, aus dem Osten kommend, schlängelt sich westwärts hinunter zur Estancia Pampa Hausi. Ich folge diesem Pfad ein Stück, bis ich in ein kleines Tal abzweige, das nach Südwesten führt.

Bereits zu Beginn des Tals, auf 3900 Metern Höhe, eröffnet sich ein beeindruckendes Bild: Ein nach Osten ausgerichtetes, kompaktes Felsband, dessen jede Ritze und jeder optimale Standort dicht besetzt ist mit Sulcorebutia azurduyensis var. sormae. Die morgendliche Sonne erwärmt das Felsgebilde bis in den Nachmittag hinein und sorgt dafür, dass die gespeicherte Wärme auch den frostigen Nachttemperaturen trotzt.

Die meisten dieser Pflanzen sind kleinwüchsig, oft kaum grösser als ein Zentimeter im Durchmesser. Dadurch können sie sich während der Trockenzeit im Winter, wenn die Temperaturen weit unter den Gefrierpunkt fallen, tief in den Boden zurückziehen. Diese Anpassung schützt sie effektiv vor Frost und sichert ihr Überleben unter extremen Bedingungen. Auch diese Population wurde unter der Feldnummer HJ 1153 registriert.



HJ 1153 Sulcorebutia azurduyensis var. sormae
Cerro Chokhana Mekha, 3´850 m - 3´908 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

HJ 1153 Sulcorebutia azurduyensis var. sormae
Kulturbilder: Klon 1, 4, 5, 6 und 7

Ich folge dem Tal weiter abwärts in Richtung Estancia Troja, mit der Hoffnung, morgen den Weg zu erreichen, der mich nach Süden und über die Schlucht des Rio San Jose leiten wird. Doch bald ziehen bedrohliche Wolken auf, und ein böiger Wind beginnt sich zu entfalten. Oben auf dem Pass erheben sich die ersten Gewitter, begleitet von Blitzen und donnernden Echos. Ich beeile mich, in tiefere Lagen zu gelangen, um der drohenden Gewalt der Natur zu entkommen.

Als der Sturm heftig auffrischt und die ersten Tropfen fallen, ziehe ich hastig Regenhose und Poncho über, suche Schutz hinter einem Felsvorsprung und warte mit angespanntem Atem, was auf mich zukommt. Es sollte ein Spektakel der Natur werden, wie ich es selten auf meinen Reisen erlebt habe. Hagelkörner, so gross wie Walnüsse, prasseln unbarmherzig auf meinen Kopf und geben den Auftakt zu einem Unwetter von epischen Ausmassen. Der einsetzende Starkregen, begleitet von grellen Blitzen und donnernden Gewalten, entfesselt tosende Sturzbäche, die sich wild und ungebändigt von den Steilhängen und Felsen herabstürzen. Jede Bewegung wird zum Balanceakt, während ich mit wachsamem Blick darauf achte, nicht von den tobenden Wassermassen mitgerissen zu werden.

Meine Regenausrüstung gibt schliesslich dem gnadenlosen Ansturm nach und bietet kaum mehr als einen rudimentären Schutz gegen den tobenden Wind. Kälte dringt durch jede Faser meines Körpers und lässt meine Zähne klappern, während die Unterkühlung meinen steifen Körper erfasst. Es scheint eine Ewigkeit zu dauern, bis sich das Unwetter beruhigt und die Fluten im Gelände zurückweichen. Mein einziger Wunsch ist es jetzt, so schnell wie möglich in wärmere, tiefere Lagen zu gelangen.

Beim weiteren Abstieg fallen mir immer wieder Populationen von Sulcorebutia azurduyensis var. sormae ins Auge, die ich morgen genauer untersuchen möchte. Nach einem schnellen, doch beschwerlichen Abstieg über achthundert Höhenmeter finde ich endlich, oberhalb des Rio San Jose, einen Ort, wo die wärmende Abendsonne mir einen Platz für die Nacht schenkt. Doch die Kälte hat sich tief in meine Knochen gegraben. Erst als ich in trockene Kleider schlüpfe und mich in den Schlafsack kuschele, breitet sich allmählich wohlige Wärme aus. Erschöpft, aber glücklich, lasse ich die Strapazen des Tages Revue passieren und empfinde tiefe Dankbarkeit, sie unversehrt überstanden zu haben.




Nähe Estancia Troja, Mittwoch, 23. November, Camp 8. Tag

Mein Schlaf war so tief, als hätte man mich in Narkose versetzt. Erst als die Sonne mein Zuhause in eine Sauna verwandelt, erwache ich - ausgeruht und bereit für neue Abenteuer. Die Luft ist klar, die Sicht weit, und ein würziger Duft erfüllt die Umgebung, während ich mich wieder in jene Höhen begebe, aus denen ich gestern hastig abgestiegen war. Schon bald entdecke ich zwischen Moos, Flechten und Steinen eine weitere Population der Sulcorebutia azurduyensis var. sormae, HJ 1154. Im Vergleich zur gestern entdeckten HJ 1153-Population erscheinen diese Exemplare robuster, mit unterschiedlich langen Dornen und variierenden Körperfarben.

HJ 1154 Sulcorebutia azurduyensis var. sormae
Cerro Muyu Orkho, 3´200 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

HJ 1154 Sulcorebutia azurduyensis var. sormae
Kulturpflanzen: Klon 13

Um herauszufinden, ob die Pflanzen auch in tieferen Lagen vorkommen, wandere ich entlang der Nordseite des Rio San José talwärts. Tatsächlich stosse ich auf eine weitere Population, die HJ 1155. Ihr Erscheinungsbild ähnelt der zuvor gefundenen Population, jedoch sind die Pflanzen hier häufig grösser und können einen Durchmesser von bis zu drei Zentimetern erreichen. Von diesem Punkt aus eröffnet sich ein beeindruckender Überblick über das Verbreitungsgebiet der Sulcorebutia azurduyensis var. sormae mit den Standorten der HJ 1151b und HJ 1153.

HJ 1155 Sulcorebutia azurduyensis var. sormae
Cerro Muyu Orkho, 3´126 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

HJ 1155 Sulcorebutia azurduyensis var. sormae
Kulturpflanzen: Klon 2, 3, 5, 7, 9 und 12

HJ 1155 Sulcorebutia azurduyensis var. sormae
Kulturpflanzen: Klon 20, 21, 23 und 68

Westwärts erhebt sich das Gelände sanft zu einer Kuppe. Im roten Sandstein wimmelt es von den beeindruckenden, vielköpfigen Sulcorebutia azurduyensis var. sormae, die durch ihre Grösse und Anzahl ins Auge stechen. Einige Exemplare jedoch haben sich so perfekt dem mineralischen, braunrötlichen Boden angepasst, dass sie nur schwer auszumachen sind.

Von diesem Punkt eröffnet sich erneut ein beeindruckender Blick auf das zerklüftete, nach Norden ausgerichtete Einzugsgebiet der Sulcorebutia azurduyensis var. sormae. Am nördlichen Horizont befindet sich der südlichste Standort der Sulcorebutia jucker, HJ 1150b.

Blick nach Norden

HJ 1156 Sulcorebutia azurduyensis var. sormae
Cerro Muyu Orkho, 3´156 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien,

HJ 1156 Sulcorebutia azurduyensis var. sormae
Kulturpflanzen: Klon 1, 5, 7, 9, 13 und 16

Etwas weiter talabwärts, auf einer weiteren Anhöhe, befindet sich der am tiefsten gelegene Standort von Sulcorebutia azurduyensis var. sormae. Auch hier zeigen die Pflanzen meist ein kräftigeres Wachstum als jene in höheren Lagen.

HJ 1157 Sulcorebutia azurduyensis var. sormae
Cerro Muyu Orkho, 3´038 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

HJ 1157 Sulcorebutia azurduyensis var. sormae
Kulturpflanzen: Klon 2, 3, 5, 6 und 7

Die Morgensonne steht bereits hoch am Himmel und brennt unangenehm in der klaren Luft. Es gibt keinen Schatten, um gemütlich zu frühstücken. Doch dann erblicke ich in der Nähe einen Bauern, der sein Feld pflügt, und neben ihm eine prächtige Akazie. Endlich kann ich im kühlen Schatten der Baumkrone mein lang ersehntes Müsli geniessen und gleichzeitig den Bauern fragen, ob der Weg in die Schlucht des Rio José, den ich vermute, der richtige ist. Mit einem bestätigenden Nicken gibt er mir die Antwort.

Am Beginn des Abstiegs in die Schlucht entdecke ich eine leuchtend rot blühende Lobivia cinnabarina, die in den mittleren Höhenlagen der Cordillera Mandinga weit verbreitet ist. Ganz in der Nähe wächst auch eine Echinopsis huotii, eine weitere charakteristische Art, die im südlichen Bolivien häufig anzutreffen ist.

Lobivia cinnaberina
Cerro Muyu Orkho, 3´038 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

Echinopsis huotii
Cerro Muyu Orkho, 3´038 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

Der steile Abstieg, bewachsen mit niedrigen Sträuchern, bietet immer wieder neue Einblicke in verschiedene Kakteengattungen auf unterschiedlichen Höhenlagen. Besonders spannend ist zu sehen, dass gleich zu Beginn, meist zwischen den schützenden Sträuchern, zwei verschiedene Cleistocactus-Arten nebeneinander gedeihen.

Cleistocactus spec.
Nähe Estancia Troja, 2´900 m, auf der Nordseite des Rio San José, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

Cleistocactus spec.
Nähe Estancia Troja, 2´900 m, auf der Nordseite des Rio San José, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

Auch das Gymnocalycium pfanzii in tieferen Lagen scheint die schattigen Plätze unter Akazienbüschen zu bevorzugen, ebenso wie die Echinopsis thelegona, die entweder aufrecht wächst oder am Boden entlangkriecht.

Gymnocalycium pfanzii
Nähe Estancia Troja, 2´700 m, auf der Nordseite des Rio San José, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

Echinopsis thelegona
Nähe Estancia Troja, 2´700 m, auf der Nordseite des Rio San José, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

Zwischen den Büschen entdecke ich gelegentlich auch die strauchige und reich verzweigte Opuntia conjugens, deren schlanke, abgeflachte Triebe bis zu 70 cm hoch wachsen und mit runden, roten Früchten geschmückt sind.

Opuntia conjugens
Nähe Estancia Troja, 2´700 m, auf der Nordseite des Rio San José, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

An weniger dicht bewachsenen Stellen stosse ich mit Freude auf eine mir unbekannte Weingartia, die HJ 1158. Auffällig sind ihre zahlreichen Rippen und der kaum sichtbare Filz an den Areolen. Langjährige, intensive Beobachtungen an aus Samen gezogenen Pflanzen haben gezeigt, dass es sich um eine neue Art handelt. Ihr Erscheinungsbild erinnert stark an die Populationen von Weingartia neoocumingii im Grossraum Sucre. Diese Ähnlichkeit wirft die Frage auf: Gehört HJ 1158 zur Weingartia neoocumingii?

Um dies zu klären, wurden kontrollierte Kreuzungen zwischen HJ 1158 und Exemplaren der Weingartia trollii Oeser, einer typischen Vertreterin der Neoocumingii-Sippe, durchgeführt. Die Untersuchungen ergaben keine signifikanten genetischen Übereinstimmungen, weshalb HJ 1158 als eigenständige Art betrachtet werden muss.

Die Pflanze wurde erstmals im "Echinopseen 2024 - 21 (1) 1-16" als Weingartia pseudoneocumingii sp. nov. beschrieben, ein neuer Vertreter der Gattung Weingartia von den Berghängen des Rio San José, siehe unter Jucker Literatur

HJ 1158 Weingartia pseudoneocumingii
Nähe Estancia Troja, 2´675 m, auf der Nordseite des Rio San José, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

HJ 1158 Weingartia pseudoneocumingii
Kulturpflanzen: Klon 4, 7, 10, 12 und 13

Im Jahr 1993 entdeckte ich an den steilen, schwer zugänglichen Berghängen im Talboden des Rio San José eine Weingartia mit der Feldnummer HJ 417 (siehe Etappe 9). Aufgrund des warmen Klimas zeichnet sich diese Pflanze durch längere und dünnere Dornen aus, wird jedoch derselben Art wie die HJ 1158 zugeordnet.

HJ 417 Weingartia pseudoneocumingii
Erstmals 1993 am Rio San José entdeckt

Die Überraschungen reissen nicht ab: Am selben Standort wie die Weingartia HJ 1158 gedeiht auch die Lobivia krahn-juckeri ssp. echinopsoides. Bereits 2004 entdeckte ich diese Art westlich des Río Pilcomayo. Ihre wissenschaftliche Erstbeschreibung als Unterart der Lobivia krahn-juckeri erfolgte 2017 in der Fachzeitschrift Succulenta. Siehe auch unter Jucker Literatur.

HJ 1159 Lobivia krahn-juckeri ssp. echinopsoides
Nähe Estancia Troja, 2´675 m, auf der Nordseite des Rio San José, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Jaime Zudañez, Bolivien

HJ 1159 Lobivia krahn-juckeri ssp. echinopsoides
Kulturpflanzen: Klon 2x 1, 3 und 5

Der 800 Meter tiefe, oft rutschige Abstieg zum Río San José hielt eine Fülle faszinierender Entdeckungen bereit. Ich verbrachte Stunden mit Fotografieren und dem Anfertigen von Feldnotizen - jede Pflanze, jeder Stein schien eine Geschichte zu erzählen. Umso grösser war meine Erleichterung, als ich am späten Nachmittag das Flussbett erreichte und einen idealen Platz für die Nacht fand. Nur wenige Schritte entfernt floss klares, wenn auch spärliches Wasser - gerade genug für ein erfrischendes Bad und zum Auswaschen meiner durchgeschwitzten Kleidung.

Am Rio San José, Camp 10 Tag




Am Rio San José, Donnerstag, 24. November, Camp 10. Tag

Der Tag hatte noch kaum begonnen, als ein lautes Donnern mich brutal aus dem Schlaf riss. Noch halb verschlafen blickte ich nach draussen und sah, wie helle Blitze die tiefhängenden, dunklen Wolken erhellten, während sich das Grollen bedrohlich im Tal ausbreitete. Rasch packte ich meine Habseligkeiten zusammen, um so schnell wie möglich die andere Talseite zu erreichen - für den Fall, dass das kleine Rinnsal des Rio San José plötzlich zu einem reissenden Fluss anschwellen würde.

Während ich bei Blitz und Donner über die grossen Flusssteine das breite Flussbett durchquerte, setzte ein leichter Regen ein. Ohne lange suchen zu müssen, entdeckte ich einen gut sichtbaren Pfad, der sich an einem Seitental zwischen Akazienbüschen die Berge hinaufschlängelte. Kaum bin ich zweihundert Höhenmeter aufgestiegen, ertönte plötzlich ein ohrenbetäubendes Rumpeln und Krachen - als würde der ganze Berg auf mich herabstürzen. Ängstlich blieb ich stehen, doch obwohl ich nichts Auffälliges sehen konnte, wurde das unheimliche Dröhnen immer lauter.

Dann schoss mit einem Mal eine gewaltige Gerölllawine aus dem Seitental hervor und überflutete innerhalb von Sekunden das breite Flussbett des Rio San José. Der blosse Gedanke daran, zu diesem Zeitpunkt noch dort unten gewesen zu sein, jagte mir einen Schauer über den Rücken. Die mit Geröll und Schutt beladene Flutwelle schleuderte tonnenschwere Felsbrocken wie Pingpongbälle talwärts. Wäre ich dort gewesen, hätte sie mich unweigerlich mitgerissen - und der vermisste Gringo wäre wohl nie wieder aufgetaucht.

Eine mächtige Flut- und Gerölllawine, ausgelöst durch ein nahegelegenes Gewitter, ergiesst sich in den wasserarmen Rio San José.

Zusätzlich zu meiner Regenausrüstung schlüpfe ich in eine dünne, windgeschützte Jacke und Hose. Kaum bin ich wieder unterwegs, bricht tatsächlich die Sintflut los, ähnlich wie vor zwei Tagen. Wasserbeladene Sturmböen werfen mich immer wieder zu Boden, und das Überqueren der reissenden Sturzbäche an den Steilhängen wird zunehmend schwieriger und gefährlicher. Erschöpft, durchweicht und vor Kälte starr, entdecke ich am Nachmittag in den dichten Wolken die Umrisse eines Hauses.

Das Gebäude hat keine Tür, aber ich sehe hinein und stelle erleichtert fest, dass es unbewohnt ist. Ich setze mich ins Trockene, warte und hoffe auf besseres Wetter. Doch draussen stürmt und regnet es unaufhörlich weiter, und die Kälte dringt noch tiefer in meinen durchnässten Körper. Mir bleibt nichts anderes übrig, als trockene Kleider anzuziehen - doch die einzige Option sind die Kleidungsstücke, die ich gestern gewaschen habe. Sie sind zwar noch feucht, aber bei weitem nicht so nass wie die, die ich trage. Ich wechsle sie und richte mich häuslich ein, da keine Wetterbesserung in Sicht ist.

Um den Boden vorzubereiten, befreie ich ihn von Pflanzen und begradige ihn, bevor ich wie gewohnt mein Zelt darin aufbaue. Ich koche eine warme Mahlzeit und bereite viel Tee für die Nacht. Danach krieche ich in meinen Schlafsack, und bald wird es kuschelig warm. Während ich aus dem Zelt hinaussehe, beobachte ich kleine Wasserfälle, die draussen vom Dach plätschern. Die beruhigende Szenerie verstärkt meine Müdigkeit, und ich schlafe ein, um am nächsten Morgen ausgeruht aufzuwachen.

Übernachtungsort beim Aufstieg vom Rio San José zum Cerro Sombrero, Camp 11 Tag




Vom Rio San José zum Cerro Sombrero, Freitag, 25. November, Camp 11. Tag

Gestern am späten Nachmittag bin ich eingeschlafen und erst heute Morgen wieder erwacht, als der Horizont begann, sich in pastellfarbigen Tönen zu färben. Mit der Stirnlampe packe ich meine Sachen zusammen und mache mich in der noch bitterkalten, jedoch klaren Morgenluft auf den Weg zur Passhöhe. Später, an einem kleinen Bachlauf, gönne ich mir ein entspanntes Frühstück und lasse dabei mein gesamtes Inventar in der wärmenden Sonne trocknen.

Trocknen meiner Habseligkeit vom gestrigen Regen

Vorbei an der markanten Gesteinsformation des Cerro Sombrero erreiche ich schliesslich die Landstrasse, die von Icla über die Cordillera Mandinga bis nach Tarvita und weiter nach Azurduy führt. Mit einem Hauch von Neid beobachte ich, wie die thermischen Aufwinde zahlreiche Kondore mühelos von einem Berggipfel zum anderen tragen, ohne dass ein einziger Flügelschlag nötig wäre. Während ich mich stundenlang abmühe, gleiten sie leicht und majestätisch durch die Lüfte.

Cerro Sombrero, Cordillera Mandinga

Ein Stück weit muss ich der Strasse gezwungenermassen nach Süden folgen. Auch wenn dieser Abschnitt nicht gerade aufregend ist, wird er durch die fantastische Aussicht auf die Berge und weiten Täler wettgemacht - sei es nach Westen oder nach Osten. Mit aufmerksamem Blick kann man in dieser feuchten Landschaft auf beeindruckender Höhe von bis 4000 Metern die zu erwartenden Kakteen erspähen. Es sind die imposanten Lobivia chrysochete, HJ 1165, deren grösse und dicht bedornte Formen sich eindrucksvoll zur Schau stellen.

HJ 1165 Lobivia chrysochete
Corro Pucaloma 3´700 m - 4´000 m, nördlich Cruz Khasa, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

Nach weiteren 15 Kilometern auf der Strasse Richtung Süden biege ich kurz nach der kleinen, verwahrlosten Ortschaft Cruz Khasa auf den Fussweg nach Südosten in Richtung Tarvita ab. In dieser abwechslungsreichen, steinigen Graslandschaft erstrahlen orangerote, niedrig wachsende Pflanzen, die Philibertia lysimachioides, ein Vertreter der Hundsgiftgewächse. Dieser verzweigte, flach wachsende Strauch vermehrt sich durch Absenker und erreicht eine Höhe von 4 bis 7 cm. Die Blätter sind leicht behaart oder kahl, eiförmig bis herzförmig, mit einer Länge von 6 bis 10 mm und bis zu 3 mm langen Blattstielen. Sie wachsen paarweise gegenständig und erinnern an Lysimachia nummularia, nach der sie benannt wurde. In den Ostbolivianischen Anden auf exponierten steinigen Hängen präsentieren sich die Pflanzen mit ihren Einzelblüten, die aus den Blattachseln wachsen. Die Blüten sind mehr oder weniger breitglockig und bestehen aus fünf Zipfeln. Ihre Farben reichen von satt orange bis zitronengelb, ergänzt durch eine markante zentrale Staubblattkrone mit sterilen und fertilen beutelartigen Staubbeuteln.

Philibertia lysimachioides, Familie der Hundsgiftgewächse
Cerro Pucaloma, 3´500 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

In den hohen Lagen nordöstlich des Cerro Pucaloma, am Rande eines einsamen Hochmoors, finde ich endlich einen idealen Platz für das heutige Lager. Am Abend unternehme ich einen Rundgang durch den nahegelegenen steinigen Hügel und stosse dabei auf vereinzelte Mischformen von Sulcorebutia azurduyensis var. sormae x Sulcorebutia azurduyensis (HJ 1160). Ich beschränke mich darauf, einige Feldnotizen zu machen, da ich davon ausgehe, morgen noch weitere Standorte zu finden.

Nach langem Suchen finde ich im Rucksack die letzte Packung Trockenmahlzeit: Spaghetti Carbonara, zusammen mit einem Schokoriegel, der kaum noch als solcher zu erkennen ist. Dazu entdecke ich zwei übriggebliebene Dreieckskäse und ein Stück Brot, das ich vor fast zwei Wochen in Icla gekauft habe - inzwischen nur noch als Paniermehl geniessbar. Mit der inständigen Hoffnung, morgen Tarvita zu erreichen, klammere ich mich an den Gedanken, dem Hunger zu entkommen.

Nordöstlich vom Cerro Pucaloma, Camp 12 Tag




Cerro Pucaloma - Samstag, 26. November, Camp 12. Tag

Absolute Windstille herrscht, und der Nebel hat sich wie ein dichter Schleier über die Landschaft gelegt. Draussen vor dem Zelt ist alles feucht und nass. So suche ich wieder die Wärme meines Schlafsacks, schreibe Tagebuch und koche heissen Tee. Erst als die ersten Sonnenstrahlen wie goldene Lanzen den Nebel durchbrechen, packe ich meine Habseligkeiten zusammen und mache mich auf den Weg. Die schleierhaften Nebelbänke lösen sich allmählich auf, und ich betrete eine Landschaft, die aussieht, als hätte es Steine geregnet. Zwischen den Felsspalten gedeihen Mischformen von Sulcorebutia azurduyensis var. sormae x Sulcorebutia azurduyensis, (HJ 1160a). Ihre meist grasgrünen Körper sind oft nicht mehr als einen Zentimeter dick und liegen, gut geschützt vor Erosion, verborgen zwischen den Steinen.

HJ 1160a Sulcorebutia azurduyensis var. sormae x Sulcorebutia azurduyensis
Cerro Pucaloma, 3´600 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

Mit geschärftem Blick für Kakteen setze ich meine Wanderung nach Osten durch die Steinwüste fort. Plötzlich stehe ich, etwas überrascht, vor einem steilen Abgrund mit weitem Blick ins Tal von Tarvita. Gleich zu Beginn des Abstiegs an einer steilen Felswand entdecke ich eine beeindruckende Gruppe von Echinopsis tarijensis ssp. tarijensis - die einzige weit und breit. Einige der Triebe tragen noch Blüten, deren äussere Blütenblätter (Perianth-Segmente) eine besondere rötliche Färbung aufweisen.

Blick nach Osten ins Tal von Tarvita

Echinopsis tarijensis ssp. tarijensis
Ostseite des Cerro Pucaloma, 3´600 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

Der Abstieg am Steilhang mit seinen Felsabbrüchen verlief schneller und einfacher als erwartet, sodass ich bald einen Gebirgskamm erreiche, von dem aus der Weg weiter ins Tal führt. Es war abzusehen, dass sich die Sulcorebutia azurduyensis in dieser steinigen, von Gras und Kräutern bewachsenen Landschaft wohlfühlen würden, doch die riesigen Polster mit über hundert Köpfen haben mich dann doch überrascht. Auf diesem grünen Teppich aus niedrig wachsenden Staudenpflanzen trifft man gelegentlich auf die Philibertia lysimachioides mit ihren lebhaften, orangefarbenen becherförmigen Blüten, sowie auf die Lobivia chrysochete, die durch ihre imposante Erscheinung beeindruckt.

Ich habe die Sulcorebutia azurduyensis erstmals auf meiner Reise 1993 entdeckt, als ich von Zudañez nach Azurduy gewandert bin, siehe auch Etappe 9. Sie wurde im September 2006 in der Zeitschrift "Kakteen und andere Sukkulenten" erstbeschrieben als Sulcorebutia azurduyensis benannt nach der Ortschaft Azurduy.

HJ 1161 Sulcorebutia azurduyensis
Osthang vom Cerro Puscaloma, 7 km nordwestlich Tarvita, 3´500 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien, mit Blick nach Osten ins Tal von Tarvita

HJ 1161 Sulcorebutia azurduyensis
Kulturpflanze: Klon 1

Der Pfad über den Gebirgskamm führt hinunter in ein kleines Seitental, durchquert es und setzt sich auf einem weiteren Grat nach Osten fort. Kurz bevor ich den klaren, erfrischenden Gebirgsbach erreiche, öffnet sich das Gelände und ist von niedrigen Sträuchern bewachsen. Auf dem feuchten Boden, entfalten Moose, Oxalis und andere Kräuter ihre grüne Pracht. Genau hier, meisterhaft an ihre Umgebung angepasst, gedeihen die für mich beeindruckenden Sulcorebutia tarvitaensis, HJ 1162. Mit ihrer sattgrünen Epidermis wachsen sie einzeln heran, erreichen eine Dicke von bis zu 3 cm und sind prall gefüllt mit Wasser - ein wahrlich faszinierender Anblick, der die Schönheit der Natur widerspiegelt.

HJ 1162 Sulcorebutia tarvitaensis
6 km nordwestlich Tarvita, 3´220 m - 3´040 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien, mit Blick von der HJ 1161 nach Osten ins Tal von Tarvita

HJ 1162 Sulcorebutia tarvitaensis
Kulturpflanzen: Klon 1, 2, 7 und 8

HJ 1162 Sulcorebutia tarvitaensis
Kulturpflanzen: Klon 10, 11, 12 und 19

Typisch für Sulcorebutia tarvitaensis sind die gleichmässig gefärbten Blüten in zarten bis satten Lilatönen. Doch unter den aus Samen gezogenen Pflanzen zeigen sich vereinzelt überraschende Farbspiele: Blüten, in denen Gelb und Karminrot auf faszinierende Weise miteinander verschmelzen. Dieses aussergewöhnliche Erscheinungsbild lässt vermuten, dass sich die Population zumindest teilweise mit der nahegelegenen HJ 1161 (Sulcorebutia azurduyensis) vermischt hat.

Das Verbreitungsgebiet der Sulcorebutia tarvitaensis liegt in der weiteren Umgebung der Ortschaft Tarvita (Villa Orías). Seit dem Ausbau der Strasse von Villa Serano nach Azurduy wurden verschiedene Standorte von zahlreichen Kakteenliebhabern gefunden. Erst im Jahr 2008 wurde die Pflanze von Willi Gertel und Peter Lechner wissenschaftlich beschrieben.

Nur wenige Meter entfernt, auf einem winzigen, felsigen Hügel, entdeckte ich die ersten Exemplare der HJ 1162 Sulcorebutia tarvitaensis. Die Wuchsbedingungen an diesem Ort sind jedoch alles andere als ideal, was sich in den kleinwüchsigen Pflanzen widerspiegelt. Besonders bemerkenswert ist jedoch die Gesellschaft einer weiteren Kakteengattung: einer mir unbekannten Aylostera, die unter der Bezeichnung HJ 1163 geführt wird. Diese Pflanzen e rreichen eine Dicke von bis zu 3 cm, sprossen jedoch nur selten - und selbst dann meist erst im hohen Alter.

HJ 1163 Aylostera spec.
6 km nordwestlich Tarvita, 3´220 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien, mit Blick nach Westen

HJ 1163 Aylostera spec.
Kulturpflanzen: Klon 9, 12, 20 und 22

Auf dem weiteren Weg ins Tal begegnet man der Sulcorebutia tarvitaensis immer wieder an verschiedenen Standorten. Besonders bemerkenswert sind die Exemplare oberhalb der Ortschaft Tarvita, die unter idealen Bedingungen heranwachsen konnten und dabei beeindruckende Grössen von bis zu 5 cm erreichten - registriert unter der Feldnummer HJ 1164.

HJ 1164 Sulcorebutia tarvitaensis
2 km nordwestlich Tarvita, 2´726 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

HJ 1164 Sulcorebutia tarvitaensis
Kulturpflanzen: Klon 10 und 15

Entlang des grasbewachsenen Abstiegs recken blühende Puya humilis stolz ihre Rispen dem goldenen Abendlicht entgegen, ein Anblick, der geradezu dazu einlädt, die Kamera in die Hand zu nehmen.

Puya humilis
2 km nordwestlich Tarvita, 2´700 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

Am späten Nachmittag erreiche ich Tarvita - ziemlich erschöpft, doch gesund und munter. Mein erster Gedanke gilt dem Telefonamt, denn ich sehne mich danach, endlich Doras vertraute Stimme von zu Hause zu hören. Zu meiner Überraschung gibt es jedoch kein Telefonamt, sondern nur 10-Boliviano-Telefonkarten, die mühsam aus unzähligen Zahlenkombinationen zusammengesetzt werden müssen. Etwas überfordert mit dieser Herausforderung, eilt mir eine junge, charmante Dame zur Hilfe. Mit ihrer Unterstützung gelingt es, eine Verbindung nach Hause herzustellen. Die Erleichterung ist gross - sowohl bei Dora als auch bei mir, denn es gibt nur Gutes zu berichten.

Danach finde ich ein sauberes Hostal mit angeschlossenem Restaurant, wo ich endlich meinen aufgestauten Hunger stillen und - nicht zu vergessen - das lang ersehnte Bier geniessen kann.

Tarvita mit der Plaza Cental




Tarvita - Sonntag, 27. November, 13. Tag

Heute verspricht ein entspannter Tag zu werden. Der Bus, der am Morgen in Sucre abfährt, soll Tarvita am späten Nachmittag erreichen, wo ich zusteigen werde, um weiter nach Azurduy zu fahren. Diese zeitliche Freiheit gibt mir Gelegenheit, wichtige Dinge in Ruhe zu erledigen und den Tag gelassen anzugehen.

Zum Frühstück gibt es nur ein Stück Brot und einen Kaffee - eine bescheidene, doch übliche Mahlzeit in diesem Hause. Hier steigen keine Touristen ab, sondern Einheimische, die mit dem Bus reisen, um ihre Waren zu verkaufen, einzukaufen oder Verwandte zu besuchen. Oft sparen sie lange für eine solche Fahrt, und ein üppiges Frühstücksbuffet ist dabei nicht erforderlich.

Der Tag begrüsst mich mit strahlendem Sonnenschein, ideal, um den Waschtrog im Hinterhof für meine Wäsche zu nutzen und diese dort auch trocknen zu lassen. Endlich finde ich Zeit, die Samen der gesammelten Kakteenfrüchte zu säubern und in der Sonne zum Trocknen auszulegen.

Am Mittag lockt mich der unwiderstehliche Duft von frisch gegrilltem Hühnchen an eine Imbissbude auf der Plaza, und ohne zu zögern gönne ich mir zwei Hälften eines ganzen Vogels - ein seltener Genuss, den ich in vollen Zügen auskoste, bevor mich ab morgen in Azurduy auf der Weiterreise wieder zwei Wochen Trockenfutter erwarten.

Am Nachmittag beschäftige ich mich damit, die getrockneten Samen in Papiertüten zu verpacken und mit den entsprechenden Feldnummern zu versehen. Auch meine Wäsche ist inzwischen trocken, sodass ich meine Sachen zusammenpacken und zur Plaza gehen kann, um auf den Bus zu warten. Dass dieser pünktlich eintreffen würde, war ohnehin nicht zu erwarten. Doch dass er erst um 19:00 Uhr kommen würde, überrascht mich dennoch. Der Fahrer erklärt, dass eine Reifenpanne schuld daran gewesen sei.

Busfahrt von Tarvita nach Azurduy

Dort angekommen kehre ich wie im letzten Jahr in der Pension Silvestre ein. Die Chefin erkennt mich sofort wieder und führt mich in dasselbe Zimmer wie damals. Das Bett mit Metallfedern unter der Matratze erweist sich erneut als unbequem, sodass ich mich für die Nacht auf dem Boden einrichte.




Azurduy - Montag, 28. November, 14. Tag

Heute Morgen bin ich voller Aufregung, denn die Ungewissheit ist gross: Ist das Paket mit den Lebensmitteln, das ich vor zwei Wochen in Sucre per Bus hierhergeschickt habe, wirklich angekommen? Mit gemischten Gefühlen betrete ich die Bushaltestelle und frage bei der Paketaufbewahrung nach. Doch zu meiner Erleichterung wird es mir sofort, ohne langes Suchen, ausgehändigt - was für eine Freude! Wäre es nicht angekommen, hätte ich meine Reise hier in Azurduy beenden müssen. Doch nun kann mein Abenteuer weitergehen.

Mit neuer Energie kaufe ich noch ein paar frische Lebensmittel - Brot, Ziegenkäse und Bananen - und mache mich in der Pension reisefertig.

Blick von der Pension Silvestre über die Dächer von Azurduy

Als ich 1994 von hier zum Río Huancarani und weiter nach Camargo wanderte, nahm ich den direkten Weg über Rinconada zum Cerro Minas Altos. Um diesen Pfad nicht erneut zurücklegen zu müssen, um das Einzugsgebiet der Weingartia frey-juckeri am Río Huancarani zu erforschen, wähle ich diesmal eine alternative Route. Ich mache einen Umweg nach Osten und schlage dann einen Bogen nach Südwesten, durch bewaldete Gebiete mit tief eingeschnittenen Tälern.

Entlang der Strasse folge ich dem Río Miscu Mayu, vorbei an der Estancia Angostura, bis zu jener Stelle, an der der kleine Fluss in eine enge Schlucht mündet. Hier, in den zerklüfteten Felswänden, entdeckte Johan de Vries die weiss blühende Aylostera azurduyensis. Ich sehe die Pflanzen, wie sie scheinbar mit Flechten und Moos verwachsen in den Felsspalten haften - doch sie sind unerreichbar. Im unteren Bereich der Felswand hingegen gedeihen Formen der Aylostera fiebrigii, die HJ 1166, die grosse Polster bilden und die felsige Landschaft bereichern.

HJ 1166 Aylostera fiebrigii fa.
Rio Misca Mayu, südöstlich von Azurduy, 2´440 m, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

HJ 1166 Aylostera fiebrigii fa.
Kulturpflanzen: Klon 1, 3 und 5

Als ich einen Waldweg entdecke, der in die Berge führt, folge ich ihm und gelange zu einer Lichtung, die bei uns einer Alphütte gleichen würde - mit saftig grüner Wiese, ideal, um mein Zelt aufzuschlagen. Der Nachmittag ist noch lang, und so nutze ich die Zeit für einen Ausflug in die höher gelegenen Berge, in der Hoffnung, Sulcorebutien zu finden - doch leider ohne Erfolg.

Blick ins Tal des Río Misca Mayu in Richtung Azurduy

Später koche ich draussen ein ungarisches Gulasch und lasse den Blick über die atemberaubende, bewaldete Berglandschaft schweifen. Vor mir erstreckt sich das Tal des Río Misca Mayu, dessen Pfaden ich morgen folgen werde.

Blick ins Tal des Rio Misca Mayu, Camp 15 Tag




Am Rio Misca Mayu - Dienstag, 29. November, 15. Tag

Das herrliche Wetter treibt mich früh aus dem Zelt. Die Sonne wärmt die sattgrüne Wiese und erfüllt die Luft mit einem würzigen Duft. Voller Energie nehme ich den Weg wieder auf, den ich gestern gegangen bin, stets aufmerksam, um den Abzweig nicht zu verpassen, der hinunter zum Rio Misca Mayo und weiter durch das Tal führt. Zum Glück begegnete mir ein Mann, der mir den entscheidenden Hinweis gab: 'Nur ein kleines Stück weiter, Gringo, und dann rechts in den Wald.' Ohne diesen Hinweis hätte ich den Weg wohl übersehen, denn der Einstieg war bereits stark zugewachsen. Da stellte ich mir unweigerlich die Frage, was mich wohl noch alles erwarten würde.

Abstieg ins Tal des Rio Misca Mayu mit Blick nach Süden

Auf dem Weg ins Tal begegnen mir zahlreiche Bäume, deren Äste von Epiphyten wie Bromelien, Tillandsien und Rhipsalis floccosa ssp. tucumanensis bewachsen sind. Auf den moosbedeckten Felsen entdecke ich erneut Aylostera fiebrigii (HJ 1167). Diese Pflanzen erinnern stark an die HJ 1166, die ich gestern registriert habe, konnte jedoch keine Samen finden. Während ich dem Rio Misca Mayu talwärts folge, muss ich ihn immer wieder überqueren. Um trockene Füsse zu behalten, wurden grössere Steine im Wasser platziert. Doch einmal geriet ein Stein ins Wanken, als ich darauf trat, und ich verlor das Gleichgewicht, landete unsanft in einem Pool. Glücklicherweise blieb ich unverletzt, aber meine Socken waren vollkommen durchnässt und mussten gewechselt werden. Kaum hatte ich mich hingesetzt, um das zu erledigen, fielen Ameisen über mich her und attackierten brutal meine Füsse. Schliesslich blieb mir nichts anderes übrig, als meine schmerzenden Füsse für längere Zeit im wohltuenden Wasser zu kühlen.

Entlang des Rio Misca Mayu

Der Nachmittag ist drückend heiss; die stechende Sonne und die feuchte Schwüle des Waldes machen das Vorankommen zur Herausforderung. Plötzlich wird die Stille durch lautes Kläffen gebrochen - eine Gruppe von Hunden umkreist mich und versucht, mich zu attackieren. Mit Mühe halte ich sie auf Abstand. Kurz darauf stehe ich vor einem Haus, dem Rancho Astillero. Eine junge Frau, verwahrlost und offenbar verstört, kommt mir entgegen. Sie reicht mir wortlos die Hand, holt eine Decke und breitet sie auf einem grossen Stein aus. Ich bemerke schnell, dass sie offenbar weder sprechen noch hören kann - sie antwortet nicht auf meine Fragen und verständigt sich nur mit Gesten. Ihr Zustand wirkt verwirrt, und sie trägt nur einen Schuh. Nach einer Weile kehrt sie zurück zu den Hunden und setzt sich vor das Haus, wo sie mit einer Steinmühle Maiskörner mahlt. Als ich mich verabschiede, zeigt sie keinerlei Reaktion, als hätte sie mich nie bemerkt.

Eine kurze Zeit folge ich dem Tal, bevor ich westwärts in ein Seitental des Rio Miscas abbiege. Während einer Rast dort, den Blick auf den Waldboden gerichtet, glaubte ich, Halluzinationen zu haben - oder war es die erdrückende Hitze, die meinen Verstand trübte? Denn direkt vor mir, fast wie eine Fata Morgana, stand eine Gruppe von Speisemorcheln, jenen kostbaren Pilzen, die im Frühjahr vielerorts bei mir Zuhause am Fluss Rhein gedeihen.

Speisemorcheln entlang des Rio Misca

Irgendwann verlasse ich den Flusslauf und steige hinauf durch eine urwüchsige Landschaft aus dichten Wäldern und wildem Buschwerk. Erst spät erreiche ich einen Gebirgskamm und finde dort, eingeklemmt zwischen dichtem Gestrüpp, notdürftig einen Platz für mein Nachtlager.

Südlich Rancho Astillero, Camp 16 Tag




Südlich Rancho Astillero - Mittwoch, 30. November, 16. Tag

Kaum wieder unterwegs, sehe ich einen kleinen Jungen, der auf dem Pfad sass und mit einem jungen Hund spielte. Er wirkte erschrocken, als er mich aus dem Wald kommen sah, während ich überrascht war, kein Haus in der Nähe zu entdecken, in dem er hätte wohnen können. Als ich ihn ansprechen wollte, bemerkte ich, dass er nicht sprechen konnte und sich auch sonst ungewöhnlich verhielt. Dennoch näherte er sich mir, reichte mir die Hand - nur um dann plötzlich Angst zu bekommen und davonrannte.

Erst da sah ich, dass unweit des Pfades eine äusserst primitive Behausung stand. Der Junge hatte sich dorthin zurückgezogen und spielte erneut mit seinem Hund, ohne mich weiter zu beachten. Auch hier war keine andere Menschenseele zu sehen, die ich hätte fragen können, ob ich mich auf dem richtigen Weg befand.

Auf späteren Reisen erzählte mir eine Lehrerin, die an einer abgelegenen Schule fernab jeglicher Zivilisation unterrichtete, dass in isolierten Gebieten Boliviens gelegentlich Fälle von Inzucht vorkommen. Ich berichtete ihr von einer kleinen, abgeschiedenen Siedlung, die ich besucht hatte, und schilderte meinen Eindruck, dass einige der Bewohner ein ungewöhnliches Verhalten zeigten. Daraufhin erklärte sie mir die Hintergründe solcher Vorkommnisse. Angesichts dessen, was ich gestern bei der jungen Frau beobachtet hatte und nun bei dem kleinen Jungen wahrnahm, drängte sich mir der Gedanke auf, dass dies tatsächlich Auswirkungen von Inzucht sein könnten.

Der Weg, der mich zu diesem Haus führte, entpuppte sich als Sackgasse, und so kehrte ich wieder zum Ausgangspunkt zurück. Immer wieder stiess ich auf Spuren, die sich jedoch im dichten Gestrüpp verloren. Schliesslich fand ich mich in einer kleinen Schlucht wieder, einem Seitental des Rio Miscas. Dort kühlte ich meinen geschundenen, verschmutzten und verschwitzten Körper in einem grossen Pool, um einen klaren Kopf zu bekommen.

Entlang des Wassers entdeckte ich wieder einen Pfad und stand plötzlich, wie aus dem Nichts, vor einem leerstehenden Haus. Obwohl es noch Nachmittag war und ich kaum Fortschritte gemacht hatte, entschied ich mich, mein Nachtlager auf dem steinigen Weg vor dem Haus einzurichten.

Am Rio Miscas, nähe Rancho Misca, Camp 17. Tag




Nahe Rancho Misca - Donnerstag, 01. Dezember, 17. Tag

Das einzig Positive an meinem chaotischen Umherirren in der unzugänglichen Wildnis gestern war, dass ich geschlafen habe, als wäre ich unter Narkose. Schon im Vorfeld hatte ich geahnt, dass dieser Abstecher in das dicht bewaldete Gebiet mit seinen tiefen Tälern kein Spaziergang sein würde. Umso mehr hoffe ich nun, bald aus dieser grünen Hölle zu entkommen und angenehmere sowie trockenere Gefilde erkunden zu können.

Kaum wieder unterwegs, sehe ich mich gezwungen, den Rio Miscas immer wieder zu durchqueren - jedes Mal mit der lästigen Pflicht, meine Schuhe auszuziehen. Zwischendurch geniesse ich jedoch den festen Boden unter meinen Füssen. Doch plötzlich führt der Weg in eine enge, nur wenige Meter breite Schlucht mit senkrechten Felswänden. Ich watete durch das Wasser, das sich den Talgrund entlangzieht, während sich ein ungutes Gefühl in meinem Bauch breitmacht. Als es anfängt leicht zu regnen und die Gefahr besteht, dass der Wasserstand steigt, beschliesse ich, die Schlucht zu verlassen und mich auf trockenes Terrain zu begeben. Nach einem erfolglosen Versuch, einen anderen Weg zu finden, mache ich unter einem Felsvorsprung Rast und frühstücke geschützt vor dem Regen. Ich sitze dort ziemlich ratlos und weiss nicht, wie es weitergehen soll, als plötzlich ein junger Mann mit einem Hund aus der Schlucht auftaucht. "Hallo, Gringo, was machst du denn hier in der Wildnis?" ruft er mir zu.

Ich hätte Jorge - so heisst er - umarmen können, so gross war meine Erleichterung, endlich jemanden zu treffen, der mir helfen konnte. Jorge erzählt, dass er am anderen Ende der Schlucht wohnt und auf dem Weg zu seinen Kühen in den Bergen ist. Er bietet mir an, mich durch die Quebrada bis zu seinem Haus zu begleiten. Ohne zu zögern, schnappt er sich meinen Rucksack, staunt über dessen Gewicht und erklärt mir, wo ich am besten durch das Wasser gehen kann. Die steilen Felswände, nur spärlich vom Licht erreicht, sind bedeckt von Begonien, Moosen und Farnen. Nach etwa 800 Metern verlassen wir das Wasser, das gerade noch passierbar ist. Jorge warnt, dass dies ab Januar nicht mehr möglich sei. Meine Füsse sind vom Wasser zwar aufgeweicht, doch zum Glück habe ich keine Prellungen davongetragen.

Jorge beim Durqueren der Quebrada Rio Misca

Jorges junge Frau bringt mir warme Milch in einer Holzschale und dazu gekochten Mais. Die Familie hat drei Kinder, eines davon ist erst drei Monate alt. Jorge erzählt mir, dass er sich vor einiger Zeit von seiner Familie losgelöst hat, um sich hier in der Wildnis sein eigenes Grundstück auszusuchen und dort Ackerbau zu betreiben. Ausserdem besitzt er drei Kühe, die er jeden Tag in den Bergen melkt. Das Holz für den Bau seines Hauses hat er selbst aus seinem eigenen Wald zugeschnitten.

Dann holt seine Frau ihr Baby, das in Tücher gewickelt ist, und berichtet mir, dass es Fieber und Durchfall hat. Sofort schaue ich in meiner Apotheke nach einem geeigneten Medikament. Das Antibiotikum Ciproxin scheint die richtige Wahl zu sein. In der Gebrauchsanweisung lese ich nach, welche Dosierung für ein drei Monate altes Baby geeignet ist, und erkläre den Eltern, wie sie vorgehen müssen. Voller Hoffnung, dass das Kind wieder gesund wird, überlasse ich ihnen die ganze Packung.

Jorge mit seinen Zwei Kindern vor seinem Haus, am Rio Misca

Obwohl die Familie in grosser Armut lebt, erfahre ich eine herzliche Gastfreundschaft und spüre, dass sie zufrieden und glücklich sind. Mit grossem Dank verabschiede ich mich und schenke den Kindern jeweils einen Schokoriegel. Jorge erklärt mir, dass der Weg von nun an gut sei und sich die Gegend in den Bergen perfekt für das Nachtlager eignet. Und genau so war es.

Nachdem ich mich häuslich eingerichtet habe, erkunde ich ein steiniges, mit Gras bewachsenes Terrain in der Region des Cerro Matancerias. Zu meiner grossen Freude stosse ich dort unerwartet auf grosse Gruppen von Sulcorebutia azurduyensis, die HJ 1168. Im Gras sind diese Pflanzen gut verborgen und nur schwer zu entdecken. Ihre Erscheinung unterscheidet sich jedoch kaum von den Exemplaren aus dem Grossraum von Azurduy, die ich bereits an mehreren anderen Orten gefunden habe.

HJ 1168 Sulcorebutia azurduyensis
Cerro Matancerias, östlich Comunidad Thola Pampa, 2´930 m Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

HJ 1168 Sulcorebutia azurduyensis
Kulturpflanzen: Klon 1, 2, 3, 4, 5 und 6

HJ 1168 Sulcorebutia azurduyensis
Kulturpflanzen: Klon 7, 8 und 25

Was mich jedoch überrascht hat, ist die Vielfalt der Blütenfarben der aus Samen gezogenen HJ 1168 Pflanzen. Sie reicht von reinem Gelb bis hin zu kräftigem Rot, einschliesslich verschiedener Mischfarben.




Am Cerro Matancerias - Freitag, 02. Dezember, 18. Tag

Bereits in der Nacht setzte der Regen ein, dessen sanftes Prasseln auch am frühen Morgen auf der Zeltplane noch hörbar ist. Als ich nach draussen blicke, fühle ich mich wie in den Wolken schwebend - so dicht legt sich der feuchte Nebel über die Landschaft. Trotz der widrigen Umstände mache ich mich, so gut es geht, reisefertig und rüste mich mit Regenkleidung aus. Die letzten beiden Tage bin ich kaum vorangekommen, und wenn es so weitergeht, wird mir die Zeit fehlen, das Tal des Rio Huancarani - das Verbreitungsgebiet der unbekannten Weingartia HJ 441 - genauer zu erforschen.

Während meines Aufstiegs zum Pass des Cerro Matancerias regnet es unaufhörlich, begleitet von starkem Wind, Kälte und schlechter Sicht. Erst beim Abstieg auf der Westseite des Berges lässt der Regen nach, und die Sicht wird merklich besser. In den tieferen Lagen in felsigem steilem Gelände entdecke ich schliesslich eine weitere Population von Sulcorebutia azurduyensis, die HJ 1169.

HJ 1169 Sulcorebutia azurduyensis
Westseite des Cerro Matancerias, 2´680 m, Region von Comunidad Thola Pampa, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

HJ 1169 Sulcorebutia azurduyensis
Kulturpflanzen: Klon 2, 5, und 6

Der weitere Abstieg in diesem steilen, felsigen und rutschigen Gelände erweist sich als äusserst anspruchsvoll, und ein Sturz könnte verheerende Folgen haben. Dennoch nehme ich mir viel Zeit, um nach weiteren Kakteenvorkommen zu suchen - und werde tatsächlich fündig. Im feuchten Moos, eingeklemmt zwischen Felsen, gedeihen Formen von Aylostera, die HJ 1170.

HJ 1170 Aylostera fiebrigii fa.
Westseite des Cerro Matancerias, Region von Comunidad Thola Pampa, 2´680 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

HJ 1170 Aylostera fiebrigii fa.
Kulturpflanzen: Klon 2, 5, 11 und 43

Am Nachmittag erreiche ich das grüne, teilweise landwirtschaftlich genutzte Tal des Rio Thola Pampa, dem ich flussabwärts folge. Dichter bewaldete Abschnitte wechseln sich ab mit kargen, steinigen Hügeln, auf denen ich ohne grosse Suche erneut eine Ansammlung von Sulcorebutia azurduyensis, die HJ 1171 entdecke. Dabei fällt auf, dass die aus Samen gezogenen Pflanzen sowohl in ihrem Körper als auch in der Blütenfarbe eine bemerkenswerte Einheitlichkeit aufweisen.

HJ 1171 Sulcorebutia azurduyensis
3km nördlich Comunidad Thola Pampa, 2´545 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

HJ 1171 Sulcorebutia azurduyensis
Kulturpflanzen: Klon 1, 11, 14 und 15

Weiter talwärts zwingt mich das felsige Gelände immer wieder dazu, den nun breiter werdenden Bachlauf zu überqueren - eine wiederholte, lästige Aufgabe, bei der ich jedes Mal meine Schuhe ausziehen muss. Kurz vor der Region der Comunidad Thola Pampa, wo der Weg nach Westen in Richtung Cerro Alto Las Minas abzweigt, gibt es idyllische Möglichkeiten zum Campen.




Comunidad Thola Pampa - Samstag, 03. Dezember, 19. Tag

Das lebhafte Geplapper von Papageien auf den Bäumen neben meinem Zelt hat mich früh aus dem Schlafsack gelockt. Bei guter Laune und voller Tatendrang und schönstem Wetter mache ich mich auf den Weg und folge bald einem schmalen, kaum erkennbaren Pfad in eine kleine Schlucht. Dort plätschert klares Wasser aus westlicher Richtung von den Bergen herab. Die wärmende Morgensonne strahlt in einen natürlichen Pool zwischen den Felsen. Spontan lege ich mich hinein, geniesse die erfrischende Abkühlung und die beeindruckende Natur um mich herum. Dabei habe ich sogar Gesellschaft: Ein bolivianischer Laubfrosch (Hyla pulchella) sitzt auf einem kleinen Ast in der Nähe und lässt sich ebenfalls von der Sonne verwöhnen.

Bolivianischer Laubfrosch (Hyla pulchella) aff.
Comunidad Thola Pampa, 2´500 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

Nach einem ausgiebigen Frühstück setzt sich der schmale Pfad fort und schlängelt sich durch das enge, bewaldete Tal. Später führt er steil hinauf durch felsiges Gelände bis zu einem Gebirgskamm. Dort, zwischen Felsen und kleinen, mit Gras bewachsenen Terrassen, entdecke ich erneut eine Population von Sulcorebutia azurduyensis, die HJ 1172. Auch diese aus Samen gezogene Gruppe zeichnet sich durch eine auffallend einheitliche Zweifarbigkeit der Blüten aus.

HJ 1172 Sulcorebutia azurduyensis
2km südwestlich Cerro Tholapampa, 2´620 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

HJ 1172 Sulcorebutia azurduyensis
Kulturpflanzen: Klon 2, 3, 4 und 5

Am selben Ort wie die HJ 1172 aber in Felsritzten, wachsen auch langdornige Aylostera fiebrigii

HJ 1173 Aylostera fiebrigii fa.
Kulturpflanze: Klon 2
2km südwestlich Cerro Tholapampa, 2´620 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

Der Pfad entlang des Gebirgskamms ist kaum noch erkennbar, bis ich ihn schliesslich ganz verliere. Doch das Gelände bleibt dennoch gut begehbar, und so erreiche ich am Nachmittag eine halbwegs befahrbare Strasse, die aus nördlicher Richtung vom Cerro Minas Altos herabführt. Als ich 1993 auf direktem Weg von Azurduy hierher wanderte, existierte diese Strasse noch nicht. Auch hier entdecke ich ähnliche Formen von Sulcorebutia azurduyensis wie bei meinem letzten Fund, die HJ 1174.

HJ 1174 Sulcorebutia azurduyensis
Kulturpflanzen: Klon 4, 5 und 7
3km südlich Cerro Moro Grande, 2´940 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien, Blick nach Norden zum Cerro Minas Altos

Wie schon 1994 wandere ich von hier in Richtung Süden. Schon bald endet die halbwegs befahrbare Strasse und geht in einen gut begehbaren Pfad über. Bei einer weiteren Population von Sulcorebutia azurduyensis, die HJ 1175, finde ich keine Samen und beschränke mich daher auf Feldnotizen. An einem kleinen Wassertümpel am Wegesrand filtere ich den Wasserbedarf für die Nacht und schlage mein Zeltlager in der Nähe auf einer Wiese auf. Anschliessend unternehme ich, wie gewohnt, einen Rundgang und entdecke ganz in der Nähe im Moos, zwischen niedrigen Sträuchern, Farnen, Gräsern und Steinen, die 1994 entdeckte und damals noch unbekannte Aylostera HJ 438. Da dieser Standort ein wenig abseits vom Fundort der HJ 438 liegt, erhielt er die Feldnummer HJ 1176, die später ebenfalls in der Erstbeschreibung Verwendung fand.

Im Jahr 2017 wurde die Art von Prof. Diers in der Fachzeitschrift Succulenta erstbeschrieben und mit meinem Namen geehrt: Aylostera juckeri. Siehe auch unter Jucker Lieteratur.

HJ 1176 Aylostera juckeri
Cerro Moro Grande, 2´786 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien, Blick nach Norden zum Cerro Minas Altos.

HJ 1176 Aylostera juckeri
Kulturpflanzen: Klon 8, 12, 14, 15, 16, 17, 20 und 22

Am Standort der HJ 1176 gedeihen, zwischen niedrigen Sträuchern, Farnen und hohen Gräsern, auch die in Südbolivien weit verbreiteten Echinopsis mamillosa.

Echinopsis mamillosa
Cerro Moro Grande, 2´786 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien, Blick nach Norden zum Cerro Minas Altos




Cerro Moro Grande - Sontag, 04. Dezember, 20. Tag

Die Gipfel der Berge sind noch in dichte Wolken gehüllt, doch es kündigt sich ein wunderschöner Tag an. Früh am Morgen mache ich mich auf den Weg, fest entschlossen, den 10 Kilometer langen und beinahe zweitausend Meter tiefen Abstieg zum Rio Huancarani zu bewältigen. Schon bald fällt das spärlich mit Büschen bewachsene Gelände steil ab und gibt den Blick frei auf die beeindruckende Landschaft der Quebrada Pinos, den Rio Huancarani und weiter bis hin zum Rio Pilcomayo.

Unerwartet fällt mein Blick am Wegesrand auf ein steil abfallendes, steiniges Gelände, wo sich im Licht der Morgensonne leuchtend gelborange Blüten entfalten. Fasziniert trete ich näher und entdecke eine mir unbekannte Aylostera, die HJ 1177. Welch ein Glücksfall, dass ich die einzige erreichbare Pflanze mit einer reifen Frucht finde! Leider gelingt es nicht dort ein Foto zu machen.

Die hellgrünen Pflanzen dieser Art bilden kleine Polster, tragen kurze Dornen und erreichen einen Durchmesser von bis zu vier Zentimetern. Wie spätere Beobachtungen der herangewachsenen Exemplare zeigten, präsentieren sich sowohl Körper als auch Blüte in beeindruckender Einheitlichkeit.

HJ 1177 Aylostera spec.
Kulturpflanzen: Klon 3, 4, 5, 14 und 16
Cerro Moro Grande, 2´634 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien, Blick nach Süden

Nahezu am selben Ort, doch in felsigen Lichtungen innerhalb bewaldeter Gebiete, gedeihen Formen von Aylostera fiebrigii, die HJ 1178, die mit zunehmendem Alter zahlreiche Seitensprossen bilden.

HJ 1178 Aylostera fiebrigii fa.
Kulturpflanzen: Klon 1und 3
Cerro Moro Grande, 2´630 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien, Blick nach Norden

Weiter geht es bergab, unter der stechend heissen Sonne, bis ich schliesslich beim Rancho El Pinos, direkt bei der Schule, einen schattigen Platz zum Rasten fand. Der Lehrer, der gleich nebenan wohnt, unterhielt sich gerade mit einigen Kollegen aus dem Ort. Neugierig wollten sie wissen, was ein "Gringo" in einer so abgelegenen Gegend zu suchen habe. Ich versuchte es ihnen zu erklären, doch meine Leidenschaft für Kakteen stiess auf wenig Verständnis.

Der Lehrer zeigte mehr Interesse. Er hob meinen schweren Rucksack und meinte trocken: "Der ist aber schwer!" Ich lächelte und antwortete: "Er war einmal schwer." Dieser Satz löste ein herzliches Gelächter in der Runde aus.

Dieses Lachen verflog jedoch schnell beim weiteren Abstieg in die schwer zugängliche Quebrada Pinos. Wie schon beim ersten Mal 1994 galt es gefährliche Felspartien zu überwinden oder über rutschigen, losen Schotter zu balancieren, wo man schnell ungewollt am Boden landete - und das alles bei unerträglichen Temperaturen. Doch die Strapazen waren vergessen, als ich das klare Wasser des Rio Huancarani erreichte. Bei der nächsten Gelegenheit liess ich mich in einen natürlichen Pool gleiten und genoss die Erholung. Ohne lange zu suchen fand ich ein perfektes Nachtlager.

Nachts liess ich mich mit der Stirnlampe in den Pool sinken, um mich abzukühlen. Doch statt wohltuender Ruhe erwartete mich eine unliebsame Überraschung: Tausende Insekten, vom Licht angelockt, klammerten sich an meinen nassen Körper. Der einzige Ausweg war ein erneuter Sprung ins Wasser, um sie abzuschütteln. Die kühle Umarmung des Pools hielt mich fest - so angenehm, dass ich am liebsten die ganze Nacht geblieben wäre.

Am Rio Huancarani, Camp 21 Tag




Am Rio Huancarani - Montag, 05. Dezember, 21. Tag

Ich war überrascht, wie gut ich trotz fast 30° und der schwülfeuchten Gewitterluft bis in den Morgen hinein geschlafen habe. Vielleicht lag es daran, dass ich gestern Abend lange im Pool verweilte.

Heute möchte ich noch einmal das letzte, etwa zwei Kilometer lange Teilstück entlang des Río Huancarani bis zur Mündung in den Río Pilcomayo wandern. In diesem Abschnitt fand ich 1994 zahlreiche Standorte der HJ 441, die später als Weingartia frey-juckeri erstbeschrieben wurde. Das Gleiche gilt für die HJ 442 (Parodia juckeri) Diese Pflanzen wurden in Etappe 13 "Azurduy-Camargo 1994" illustriert und vorgestellt - siehe dazu auch die Arten- oder Feldnummernliste. Meine Recherchen an verschiedenen Standorten ermöglichten es mir, wichtige Informationen zu sammeln, die die Erstbeschreibungen vervollständigten.

Als ich den Río Pilcomayo erreichte, überraschte mich der hohe Wasserstand. Die starke Strömung macht eine Durchquerung nahezu unmöglich und ist zu gefährlich. Ursprünglich hatte ich geplant, den Fluss zu überqueren, auf der Südseite den Gebirgszügen flussaufwärts zu folgen und später erneut überzusetzen, um nach Azurduy zurückzukehren.

Von Übermut und Neugier getrieben, wagte ich den Versuch dennoch und stieg ins Wasser. Doch bereits nach wenigen Schritten packte mich die Strömung und riss mich in rasantem Tempo flussabwärts. Erst nach rund fünfzig Metern erreichte ich das Ufer wieder - völlig erschöpft. Wer es nicht lassen kann, muss es eben am eigenen Leib erfahren.

Am Rio Pilcomayo

Um wieder nach Azurduy zurückzukehren, bleiben mir nur zwei Alternativen: Entweder nehme ich den schnellen Weg, den ich bereits 1994 gegangen bin, oder ich versuche, dem Río Huancarani flussaufwärts zu folgen, bis zu einer Stelle etwa 20 Kilometer entfernt, wo eine Strasse über den Fluss führt und weiter in Richtung Río Pilcomayo verläuft.

Ich nehme mir die Zeit und besuche die nahegelegene Hacienda Hornillos, die etwas weiter flussabwärts liegt, um Informationen einzuholen. Schon bald treffe ich einen Bauern, der auf seinem Feld arbeitet, und frage ihn, ob es möglich sei, entlang des Río Huancarani in die Berge zu gelangen. Er bestätigt dies und empfiehlt mir diese Route, da sie auch für seine Tiere einfacher sei als der Weg durch die Quebrada Pinos.

Zurück zum Ausgangspunkt von heute Morgen, treibt mich die Neugier und der Drang nach Unbekanntem, weiter flussaufwärts. Doch bald tauchen die ersten Schwierigkeiten auf: Im Einzugsgebiet des Río Huancarani sind Gewitter niedergegangen, und der Fluss ist rasch angestiegen. Glücklicherweise finde ich im Wald oberhalb der Kiesbank, geschützt vor Hochwasser, einen idealen Ort für mein Nachtlager.

Am Rio Huancarani, Camp 22 Tag

Wie immer bei einem neuen Camp möchte ich herausfinden, welche Besonderheiten sich in der näheren Umgebung entdecken lassen. Schon bald stosse ich mitten im Wald auf Gruppen grosser HJ 442 Parodia juckeri-Pflanzen. Doch das Gelände in der weiteren Umgebung ist so steil und dicht bewachsen, dass ich die restliche Zeit des Tages nutzte gemütlich zu kochen und Tagebuch schreiben.

HJ 442 Parodia juckeri
Im Tal des Rio Huancarani, 1´200 m - 1´300 m, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

HJ 442 Parodia juckeri
Kulturpflanzen: Klon3 und 4




Am Rio Huancarani - Dienstag, 06. Dezember, 22. Tag

Dank der nächtlichen Regenfälle war das Klima angenehm, und ich konnte gut schlafen. Doch am Morgen überraschte mich das ungewöhnlich laute Rauschen des Rio Huancarani. Als ich nachschaute, war ich erschrocken über die gewaltigen, reissenden Wassermassen, schlammig und tosend, die sich talwärts wälzten. Unter solchen Bedingungen ist es klüger, abzuwarten, bis sich die Lage beruhigt.

Kurz vor Mittag wagte ich mich dennoch weiter flussaufwärts - barfuss, auf glitschigen Steinen, ständig die Uferseite wechselnd, während die Strömung mich herausforderte. Doch ich kam nicht weit. Plötzlich, wie aus dem Nichts, kam eine weitere Schlammlawine mir entgegen und zwang mich zur überstürzten Flucht auf eine höher gelegene Böschung. Glücklicherweise fand ich dort einen Ort, um mein Zelt aufzubauen - zwar unter nicht idealen Bedingungen, aber man lernt, bescheiden zu sein.

Am Rio Huancarandi, Camp 23. Tag

Es fühlt sich an, als wäre ich gefangen in der Launenhaftigkeit der Natur und der gerade einsetzenden Regenzeit. Wenn die heftigen Niederschläge in den Bergen anhalten und der Fluss dauerhaft Hochwasser führt, könnte meine rechtzeitige Ankunft in Azurduy gefährdet sein - was wiederum Auswirkungen auf meine geplante Rückreise hätte.

Doch lasse ich mir die Laune nicht verderben - voller Optimismus und Tatendrang erkunde ich das anspruchsvolle, steile Waldgebiet so gut wie möglich. Dabei stosse ich auf eine steile Felswand, die zu meiner Überraschung von kleinwüchsigen, mir zunächst unbekannten Parodien bewachsen ist. Beim genaueren Betrachten der teils blühenden Pflanzen wird klar, dass es sich um die Parodia gibbulosa handelt, die HJ 1179. In überwiegend schattigen Bereichen weisen die Exemplare eine eher locker angeordnete Bedornung auf - ein ungewöhnliches Merkmal für diese Art, die eigentlich sonnige Standorte bevorzugt und dort eine dichtere Bedornung entwickelt.

Aufgrund des Lichtmangels wachsen einige Pflanzen in die Länge, hängen über die Felsen oder kriechen an ihnen entlang. In dieser aussergewöhnlichen Umgebung gedeihen sie gemeinsam mit Weingarita frey-juckeri, Blossfeldia minima, Bromelien und Deuterocohnia brevispicata.

HJ 1179 Parodia gibbulosa
der alte ungültige Name gibbulosa sowie gibbulosoides werden heute als Synonym zu Parodia ocampoi gestellt
Im Tal des Rio Huancarani, 1´200 m - 1´300 m, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

Die niedrig und strauchig wachsende Opuntia discolor (HJ 1180) mit ihren zahlreich ausgespreizten Zweigen, die hier allgegenwärtig sind, zählt ebenfalls zu den typischen Waldbewohnern. Ihre dunkelgrünen, kahlen Triebabschnitte sind linealisch bis lanzettlich geformt, messen 4 bis 12 Zentimeter in der Länge und zeigen häufig purpurfarbene Flecken. Die ein bis sechs nadelartigen, fast abstehenden Dornen sind gemustert, bräunlich gefärbt und erreichen eine Länge von bis zu 3 Zentimetern. Die Blüten leuchten in hellgelben bis orangegelben Tönen, sind bis zu 3 Zentimeter lang und ebenso breit. Die kleinen Früchte sind leuchtend rot.

HJ 1180 Opuntia discolor
Im Tal des Rio Huancarani, 1´200 m - 1´300 m, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

Der Wasserstand im Rio Huancarani ist leicht gesunken, bleibt jedoch trüb und schlammig - selbst mit dem Wasserfilter kaum zu reinigen. Doch das Glück ist auf meiner Seite: Auf dem Rückweg zum Camp entdeckte ich eine Stelle, an der frisches Wasser direkt aus dem Felsen tropfte - perfekt, um es später mit dem Wassersack aufzufangen.




Am Rio Huancarani - Mittwoch, 07. Dezember, 23. Tag

Das Erwachen heute war um einiges angenehmer als gestern, als das unheimliche Rauschen des Hochwassers mein erster Eindruck des Tages war. Stattdessen wurde ich diesmal von einer Schar kreischender Papageien geweckt, die sich in den Bäumen über mir niedergelassen hatten.

Obwohl es leicht regnet, ist der Wasserstand des Flusses erfreulicherweise deutlich zurückgegangen. Doch bevor ich mein Abenteuer flussaufwärts fortsetzen kann, muss ich mich einer kleinen Reparatur widmen: Meine kurze Hose hat einiges durchgemacht. Gestern bin ich im Geäst hängengeblieben und habe sie beinahe in zwei Teile zerrissen. Später, als ich erneut irgendwo hängen blieb, gab der Stoff erneut nach - diesmal an einer anderen Stelle. Das Material scheint inzwischen so strapaziert und abgenutzt, dass ein weiteres Flicken kaum noch sinnvoll erscheint.

Das Vorankommen flussaufwärts gestaltet sich äusserst mühsam und kräftezehrend. Besonders das wiederholte Wechseln zwischen den Flussufern und das ständige An- und Ausziehen der Schuhe zerren an meinen Nerven. Immer wieder rollen Steine, mitgerissen von der Strömung, über meine Füsse hinweg-und nicht selten hallt ein schmerzerfüllter Schrei durch die Wildnis.

Doch trotz dieser Strapazen hält das Tal immer wieder faszinierende Entdeckungen bereit. An einer senkrechten Felswand offenbart sich eine erstaunlich vielfältige Vegetation. In den engen Felsspalten gedeihen folgende Pflanzen: Weingaria frey-juckeri, Parodia gibbulosa, Blossfeldia minima, Deuterocohnia brevispicata sowie verschiedene Cleistocacteen und vieles mehr. Eine kleine Oase der Vielfalt inmitten der rauen Wildnis. Der Standort der HJ 441 Weingartia frey-juckeri an dieser Felswand, auf 1600 Metern Höhe, ist der höchstgelegene, den ich bislang entdecken konnte.

HJ 441 Weingartia frey-juckeri, Blossfeldia minima und Deuterocohnia brevispicata
Im Tal des Rio Huancarani, 1´600 m, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

Ganz in der Nähe, in felsigem Gelände unter schattigen Sträuchern, gedeihen eindrucksvolle Gruppen von Echinopseen, die HJ 1181. Diese Pflanzen bilden sowohl an ihrer Basis als auch seitlich am Körper Sprosse. Ihre meist gedrungenen Körper zeichnen sich durch gradlinige, breite und wenig gehökerte Rippen aus und erreichen eine Dicke von bis zu 7 cm. Die prächtigen weissen Blüten, die seitlich erscheinen, können eine Länge von bis zu 20 cm erreichen. Die ovalen, etwa 2 cm dicken Früchte platzen von der Basis aus nach oben auf. Die genaue taxonomische Zuordnung dieser Art ist noch unklar und bleibt Gegenstand weiterer Untersuchungen - so bleibt die Pflanze bis heute namenlos.

HJ 1181 Echinopsis spec.
Im Tal des Rio Huancarani, 1´600 m, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

HJ 1181 Echinopsis spec.
Kulturpflanzen: Klon 1 (2x), 2, 3 und 4

Nicht nur das stetige Überqueren des Rio Huancarani setzt mir zu, sondern auch das mühsame Durchdringen des dichten Gestrüpps entlang des Ufers. Kein Wunder also, dass mein T-Shirt inzwischen genauso zerrissen ist wie meine kurze Hose. Zum Glück habe ich hier Ersatz. Während ich erneut von Stein zu Stein springe, hätte ich beinahe einen Nachtfalter, Arsenura obrinyana zertreten, der auf einem vom Wasser glattgeschliffenen Stein ruht und mit seinem Rüssel nach Feuchtigkeit saugt.

Nachtfalter Arsenura obrinyana auf feuchtem Flussstein
Tal des Rio Huancarani, 1´600 m, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

Die Erleichterung ist gross, als ich später eine offene, sandige Fläche entdecke - ein idealer Ort für das Nachtlager. Ausnahmsweise baue ich nicht zuerst mein Zelt auf, sondern ziehe meine Schuhe aus, um meine aufgeweichten, schmerzenden Füsse endlich an der frischen Luft zu entspannen.

Am Oberlauf des Rio Huancarani, Camp 24. Tag




Am Oberlauf des Rio Huancarani - Donnerstag, 08. Dezember, 24. Tag

Trotz des Insektensprays fanden die hartnäckigen Stechmücken immer wieder einen Weg ins Zelt, um mich gnadenlos zu attackieren und meinen dringend benötigten Schlaf zu stören. Zudem schmerzten meine Füsse, sodass ich nur wenig Ruhe fand. Dennoch bleibe ich motiviert und voller Energie, um den letzten Abschnitt entlang des Rio Huancarani hinauf zur Strasse in Angriff zu nehmen. Das zuvor meist dicht bewaldete Gebiet weicht nun stellenweise offenerem, trockenerem Gelände mit niedrigen Sträuchern. In den sonnigen Lagen haben sich zahlreiche Gruppen von Harrisia tetracantha angesiedelt, deren grosse, weisse Blüten gerade in voller Pracht erblühen - ein faszinierender Anblick.

Harrisia tetracantha
Tal des Rio Huancarani, 1´600 m, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

Weiter flussaufwärts wechseln sich felsige Abschnitte mit einzelnen Bäumen und erdige, spärlich bewachsene Böschungen ab. In dieser Umgebung scheinen die Bedingungen für das Gedeihen von Gymnocalycium pflanzii ideal zu sein - wohin man auch blickt, breiten sich diese Kakteen massenhaft in der Landschaft aus und verleihen ihr eine besondere Atmosphäre.

Gymnocalycium pflanzii
Tal des Rio Huancarani, 1´700 m, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

Direkt anschliessend ragt eine kompakte Felswand steil in den Himmel - ein Ort, an dem man kaum Leben erwarten würde. Doch der Fels ist vielerorts durchbrochen und von tiefen Spalten durchzogen, die ideale Bedingungen für das Gedeihen von Deuterocohnia brevispicata fa., Tillandsia australis und verschiedenen Cleistocacteen bieten. Trotz der rauen Umgebung entfalten sich diese Pflanzen in den Felsspalten und beweisen eindrucksvoll die Widerstandskraft der Natur.

Deuterocohnia brevispicata fa., Tillandsia australis und Cleistocacteen auf kompakten Fels
Tal des Rio Huancarani, 1´700 m, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

Immer wieder murmelte ich vor mich hin: "Wie lange muss ich diese schmerzhaften Flussdurchquerungen noch ertragen?" Doch plötzlich stehe ich unter einer Strassenbrücke - juhui, ich habe es geschafft!

Ich folge der Strasse, die in meiner Karte als Fussweg eingezeichnet ist, Richtung Westen auf einen Pass zu. Doch nach den heutigen zehn herausfordernden Kilometern entlang des Rio Hunacarani mit zahlreichen Flussdurchquerungen bin ich völlig erschöpft. Schliesslich stelle ich mein Zelt direkt auf die Strasse - mit genügend Platz zum Ausweichen, falls doch noch ein Fahrzeug vorbeikommt.

An der Strasse von Azurduy zum Rio Pilcomayo, im Tal des Rio Huancarani, Camp 25 Tag

Und tatsächlich: Kurz vor Einbruch der Dunkelheit nähert sich ein Lastwagen vom Pass her, voll beladen mit Strassenarbeitern. Wie vermutet bestätigt der Fahrer, dass sie oben auf dem Pass die Strasse weiterbauen, die eines Tages über den Rio Pilcomayo nach Santa Elena führen soll. Er bietet mir an, morgen früh mitzufahren bis hinauf zum Pass - eine willkommene Erleichterung für mich, denn von dort führt mein Weg weiter über einen Gebirgskamm nach Norden.




Im Einzugsgebiet des Rio Huancarani - Freitag, 09. Dezember, 25. Tag

Endlich sind die Nächte wieder angenehm kühl und frei von lästigen Stechmücken. Die Erschöpfung des gestrigen Tages hat mich in einen tiefen, erholsamen Schlaf sinken lassen. Noch vor Sonnenaufgang stehe ich reisefertig am Strassenrand und warte auf den Lastwagen, während ich die Erlebnisse des Vortages in mein Tagebuch eintrage.

Nebel zieht gespenstisch durch die stille Landschaft, als plötzlich Motorengeräusche die Morgenruhe durchbrechen. Wie aus dem Nichts taucht ein Lastwagen vor mir auf. Aus dem offenen Fenster ertönt ein gut gelauntes "Buenos días, Gringo!" - der Fahrer von gestern. Er winkt mir zu und meint, ich solle meinen Rucksack den Arbeitern auf der Brücke hochreichen und vorne bei ihm einsteigen - es sei noch genug Platz.

Kaum sind wir unterwegs, reicht mir der junge Fahrer zwei frische Donuts, gekauft in der Bäckerei von Azurduy. Was für eine unerwartete Morgengabe! Mit einem breiten Grinsen sagt er: "So wie du aussiehst, hast du sicher seit Langem nichts Anständiges gegessen!" Dann lacht er - eine unbeschwerte, herzliche Geste. Was für grossartige junge Menschen, voller Energie und Lebensfreude.

Die Fahrt hinauf zum Pass dauert nur wenige Minuten. Am Ziel angekommen, bedanke ich mich, und die Strassenarbeiter winken mir freundlich zum Abschied, wünschen mir Glück für meine Reise. Mit neuer Kraft und einem Lächeln im Gesicht mache ich mich auf den Weg nach Norden.

Während ich hier oben auf dem Gebirgskamm stehe und den Blick über das Tal des Río Huancarani schweifen lasse, wirkt die Landschaft verdächtig nach Sulcorebutien. Und tatsächlich - es dauert nicht lange, bis ich im lockeren Gras zwischen Steinen und den vereinzelt stehenden Puya weddelliana die ersten Polster von Sulcorebutia azurduyensis entdecke, die HJ 1182.

HJ 1182 Sulcorebutia azurduyensis
Cerro Yuraj Ichuyoi, Nähe Rancho Sillani, 2´722m, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

HJ 1182 Sulcorebutia azurduyensis
Kulturpflanzen: Klon 2 und 4

Bis in den frühen Nachmittag folge ich dem Gebirgszug in Richtung Norden. Blickt man von hier nach Südosten, offenbart sich der imposante Cerro Minas Altos, der höchste Berg der Region.

Blick nach Südosten über das Tal des Rio Huancarani zum Cerro Minas Altos

Anschliessend führt der Weg hinab ins Tal des Rio Huancarani, von wo aus ich erkennen kann, dass mein Pfad weiter östlich wieder in die Berge ansteigt. Später entdecke ich beim Aufstieg in den Felsen eine Vielfalt an Kakteen (siehe Abbildung 146).

Blick über das Tal des Rio Huancarani zu den später entdeckten Standorten der HJ 1183, HJ 1184, HJ 1185 und 1186

Die Nachmittagssonne brennt erbarmungslos vom Himmel, und so eile ich talwärts, dem erfrischenden Wasser des Rio Huancarani entgegen. Dort erwarten mich nicht nur die wohltuende Kühle eines natürlichen Pools, sondern auch schattige Baumgruppen, die sich ideal für ein Picknick unter grünem Blätterdach anbieten.

Doch meine Vorräte sind knapp geworden - sie reichen nur noch für zwei Tage. Dennoch hoffe ich, in dieser Zeit Azurduy zu erreichen. Auf dem Weg dorthin, wo mein Pfad nach Osten wieder in die Berge führt, begegne ich einem Lehrer, der auf einer Bank vor dem Schulhaus sitzt. Er unterrichtet die Kinder, die in der weiten Umgebung zu Hause sind. Sein fröhliches Gesicht verrät sofort, wie sehr er sich über meinen Besuch freut.

Nachdem ich die üblichen Fragen beantwortet habe - woher ich komme, was mich hierherführt und wohin ich gehe -, erzählt mir der Mann, dass er morgen ebenfalls zu Fuss nach Azurduy reisen wird, um dort fehlendes Schulmaterial zu besorgen. Am selben Tag will er wieder zurückkehren - es seien ja nur etwa 50 Kilometer hin und zurück. Ich schüttle den Kopf und sage, dass ich dafür mehr als zwei Tage brauchen würde. Er lacht herzlich und meint: "Die Gringos sind eben langsam.

Ich fülle den Wassersack noch mit sauberem Wasser, verabschiede mich vom Lehrer und steige in Serpentinen den fünfhundert Meter höher gelegen Berg hoch. Am späteren Nachmittag erreiche ich kurz vor dem Gipfel eine interessante von Felsbändern durchzogene Landschaft. Schon bald entdecke ich dort eine Parodia, die mir zunächst unbekannt ist, die HJ 1183. Langjährige Beobachtungen von Pflanzen, die aus Samen herangewachsen sind, haben gezeigt, dass viele Merkmale dieser Art mit der am Río Huancarani vorkommenden Parodia juckeri (HJ 442) übereinstimmen. Doch da die Umwelt- und Klimabedingungen an diesen beiden Fundorten stark voneinander abweichen, haben sich die Pflanzen in bestimmten Merkmalen unterschiedlich entwickelt. Aufgrund dieser Unterschiede wurde Parodia HJ 1183 im Jahr 2017 in der Succulenta (69(4): 157-170) als Parodia juckeri var. boralis ("die nördliche") erstbeschrieben. Siehe auch unter Jucker-Literatur.

HJ 1183 Parodia juckeri var. boralis (die nördliche)
8km nördlich Antonio Lopez - Huancarani, 2´680 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

Der Abend bricht herein, dunkle Wolken hängen schwer über dem Tal, und die ersten Tropfen beginnen zu fallen. Ich brauche dringend einen geeigneten Platz für mein heutiges Zeltlager. Doch kaum habe ich das Felsband ein Stück weiter erklommen, warten unerwartete, erfreuliche Entdeckungen: In den steilen Wänden gedeihen zwei unterschiedliche Arten von Aylosteras. Da die Dämmerung bereits eingesetzt hat, beschliesse ich, morgen hierher zurückzukehren, um die Pflanzen genauer zu untersuchen. Es ist beinahe dunkel, als ich schliesslich oben auf dem Berg auf eine flache Wiese stosse - ein glücklicher Zufall und der perfekte Ort für mein Nachtlager.




Im Einzugsgebiet des Río Huancarani - Samstag, 10. Dezember, 26. Tag

Da ich gestern mit meinen letzten verbliebenen Lebensmitteln äusserst sparsam umgegangen bin, ist mein Appetit heute Morgen umso grösser. Ich konnte nicht widerstehen, die restlichen, zumindest halbwegs noch essbaren Vorräte vollständig aufzuessen. Nun bleibt mir nur noch ein einzelner Schokoriegel - hoffentlich reicht er aus, um heute Azurduy zu erreichen.

Ich lasse mein Zelt zurück und steige erneut über die Felsen hinab zu dem Ort, an dem ich gestern noch spät eine Aylostera entdeckt habe, die HJ 1184. Nachdem ich mehrere Pflanzen genauer betrachtet hatte, kam eine vage Vermutung auf: Könnte es sich um eine Aylostera handeln, die ich bereits an verschiedenen Stellen in der weiteren Umgebung von Ayurduy gefunden habe? Ein Beispiel dafür wäre die HJ 435a, die ich 1994 in der nahegelegenen Ortschaft Ronconada, östlich von hier, entdeckt habe. Diese Vermutung bestätigte sich schliesslich, als ich die aus Samen gezogenen Pflanzen mit der HJ 435a sowie mit denen, die ich bereits als Synonym bezeichnet hatte, vergleichen konnte. Die genaue taxonomische Zuordnung dieser Art ist noch unklar und bleibt Gegenstand weiterer Untersuchungen - so bleibt die Pflanze bis heute namenlos.

HJ 1184 Aylostera spec. Synonym mit HJ 435a, HJ 1127, HJ 1128 und HJ 1134
8km nördlich Antonio Lopez - Huancarani, 2´680 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

HJ 1184 Aylostera spec.
Kulturpflanzen: Klon1, 2, 4, 8, 10, 13 und 50

Am selben Ort, eingebettet zwischen Moos, Flechten und Puya weddelliana, gedeiht eine weitere, bislang unbekannte Aylostera, die HJ 1185, mit einem Durchmesser von bis zu vier Zentimetern. Sowohl die Beobachtungen am natürlichen Standort als auch die später aus Samen gezogenen Exemplare offenbarten beeindruckende Gemeinsamkeiten in Körperform und Blütenstruktur mit der am Cerro Moro Grande entdeckten Aylostera HJ 1177. Im Gegensatz zu dieser, die Sprosse bildet, bleibt die Aylostera HJ 1185 solitär und die Dornen sind meist länger und kräftiger. Die genaue taxonomische Einordnung dieser Art bleibt jedoch weiterhin ungeklärt und ist Gegenstand laufender Untersuchungen - weshalb sie bis heute namenlos geblieben ist.

HJ 1185 Aylostera spec.
8km nördlich Antonio Lopez - Huancarani, 2´680 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

HJ 1185 Aylostera spec.
Kulturpflanzen: Sämlings Pflanzen, Klon 1, 2, 3, und 4

Ein weiterer Vertreter der Kakteen, den man im Süd-Bolivien immer wieder begegnet, hat sich hierher verirrt: die Austrocylindropuntia shaferi.

Austrocylindropuntia shaferi
8 km nördlich Huancarani, 2´700 m, Cord. Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy

Nachdem ich mich eingehend mit den beiden Aylostera-Arten beschäftigt habe, kehre ich ins Camp zurück und unternehme einen kleinen Rundgang. Schon beim ersten Blick fällt auf: Direkt neben dem Zelt breiten sich grossflächige Polster der Sulcorebutia azurduyensis, HJ 1186, über die gesamte Wiese aus. Diese faszinierenden Formen sind im Grossraum von Azurduy nahezu allgegenwärtig.

HJ 1186 Sulcorebutia azurduyensis
8km nördlich Antonio Lopez - Huancarani, 2´830 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

HJ 1186 Sulcorebutia azurduyensis
Kulturpflanzen: Klon 4, 6 und 9

Es ist fast Mittag, als ich mich endlich auf den letzten Abschnitt meiner Reise nach Azurduy begebe. Doch ich zweifle, ob ich es noch vor Einbruch der Dunkelheit schaffen werde. Kaum bin ich unterwegs, setzt Regen ein, und auf dem ersten Pass auf 3200 Metern kämpfe ich gegen böigen, kalten Wind. Die Wolken umhüllen mich, sodass jegliche Sicht verloren geht. Der schmale Pfad, überwachsen von Gras, ist kaum erkennbar - ich muss mich konzentrieren, ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

Doch auf der Ostseite der Cordillera Mandinga klart es langsam auf: Der Regen hat aufgehört, und die Sicht wird besser. Im felsigen Gelände entdecke ich zahlreich und ohne mühsame Suche Aylostera fiebrigii-Formen, die HJ 1187.

HJ 1187 Aylostera fiebriegii fa.
Kulturpflanzen: Klon 2 und 3
Cerro Fucu Fucuni, 4km westlich Cienaga, 3200 m, Cordillera Mandinga, Dep. Chuquisaca, Provinz Azurduy, Bolivien

Der Weg führt weiter von einem Gebirgskamm zum nächsten, meist bergab, bis ich kurz vor Einbruch der Dunkelheit die Strasse bei Rinconada erreiche. Die letzten fünf Kilometer nach Azurduy muss ich im Dunkeln zurücklegen. Nach 26 Tagen zu Fuss durch die unberührte Wildnis der Cordillera Mandinga erreiche ich erschöpft, doch wohlbehalten und voller Glück die Pension Silvestre in Azurduy.

Nach einer wohlverdienten Pause und einer Frischekur mache ich mich - mit einem Magen, der lauter knurrt als ein wütender Wachhund - auf zum Hamburgerstand. Dort angekommen, verkünde ich voller Entschlossenheit: "Drei Hamburger bitte, und zwar direkt auf den Grill!" Die junge Dame hinter der Theke hebt eine Augenbraue und fragt vorsichtig: "Zum Mitnehmen?" Ich schüttele den Kopf und lächle: "Nein, zum Hier-Vernichten." Ihr Blick? Ein Mix aus Faszination und leiser Besorgnis.




Azurduy - Sonntag, 11. Dezember, Tag 27

Die Erschöpfung des gestrigen Tages hat mich in einen tiefen, erholsamen Schlaf sinken lassen. Erst als ich in diesem fremden Bett erwache, umgeben von ungewohnten Geräuschen und unbekannten Schatten, wird mir klar: Meine abenteuerliche Reise durch die unberührte Wildnis der Cordillera Mandinga in Bolivien ist vorbei. Ein letztes Mal lasse ich die Erinnerungen an die endlosen Pfade, die raue Schönheit der Landschaft und die stillen Momente der Einsamkeit durch meinen Geist ziehen - ein Kapitel geht zu Ende.

Aber auch ein Hauch von Stolz erfüllt mich - ich habe die Strapazen unversehrt überstanden und dabei eine Fülle faszinierender, teils unbekannter Kakteen entdeckt. Nun geniesse ich die Rückkehr in die Zivilisation, das vertraute Gefühl von Komfort und Sicherheit. Und dennoch weiss ich bereits, dass es nicht lange dauern wird, bis der Ruf der bolivianischen Wildnis mich erneut in ihren Bann zieht.

Blick von der Pension Silvestre ins Zentrum von Azurduy

Im Herzen des Ortes, nur wenige Schritte entfernt, befindet sich ein Trödlerladen, bei dem montags stets der Bus nach Sucre abfährt. Dort kann ich mir für morgen ein Ticket mit Sitzplatzreservierung kaufen. Direkt nebenan, in einem bescheidenen Imbiss mit nur zwei Tischen, hängt der verführerische Duft von gebratenem Fleisch in der Luft. Ich kann nicht widerstehen - das angebotene Menü aus Schweinefleisch, Kartoffeln und Maiskörnern ist genau das Richtige, um meinen Hunger zu stillen.

Meine Gedanken kreisen nun um das Telefonamt - die Sehnsucht nach Doras vertrauter Stimme wächst. Es gibt hier nur ein einziges Telefon, und eine internationale Verbindung scheint kompliziert zu sein. Gerade als ich mich frage, ob es überhaupt gelingen wird, tritt eine junge, charmante Dame, die an den Kopiermaschinen arbeitet, helfend an meine Seite. Dank ihrer Unterstützung gelingt es schliesslich, eine Verbindung nach Hause herzustellen. Die Erleichterung ist gross - bei Dora und mir gleichermassen, denn es gibt nur Gutes zu berichten.

Meinen letzten Tag möchte ich auch noch aktiv gestalten und unternehme am Nachmittag einen Ausflug auf den Hausberg, der aus der bepflanzten Ebene von Azurduy majestätisch emporragt.

Azurduy - unterwegs zum Hausberg

Dort, im steinigen Gelände angekommen, erwartet mich ein atemberaubendes Naturschauspiel: Unzählige blühende Puya weddelliana strecken ihre blauen Rispen dem tiefblauen Himmel entgegen. Als ich mich staunend niederlasse, beobachte ich, wie zahlreiche Vögel - darunter auch schillernde Kolibris - sich am süssen Nektar der Blüten laben. Sogar ein Raubvogel gönnt sich eine kurze Rast auf einer der Blütenrispen, bevor er weiter nach Beute Ausschau hält. In dieser unberührten Natur zu sein, fühlt sich wie ein Geschenk an - ein würdiger, krönender Abschluss meiner Reise.

Blühende Puya weddelliana auf dem Hausberg von Azurduy




Azurduy - Montag, 12. Dezember, Tag 28

Früh am Morgen beobachte ich von meinem Zimmer aus, wie sich Reisende mit Gepäck vor dem Trödlerladen auf der Strasse versammeln - geduldig wartend auf den Bus nach Sucre.

Azurduy, warten auf den Bus nach Sucre

Pünktlich trifft er ein, und das Gepäck wird in die unteren Stauräume verladen. Ich nehme meinen Platz hinter dem Beifahrersitz ein-viel Beinfreiheit und eine klare Sicht auf die Strasse vor mir.

In Tarvita halten wir kurz, nehmen weitere Fahrgäste auf und setzen unsere Fahrt fort.

Mit dem Bus nach Sucre - Zwischenstopp in Tarvita

Immer wieder kreuzen Flüsse unseren Weg-zum Glück führen sie nur mässig Wasser, sodass die Durchquerung problemlos verläuft. Schwieriger gestalten sich die Begegnungen mit Nutztieren auf der Strasse. Der Fahrer gibt ihnen kaum Zeit, auszuweichen, und weil es oft keine Alternativen gibt, treibt er sie vor sich her, bis sie erschöpft sind. Nur mit viel Glück bleibt es bei einem waghalsigen Tanz ohne Verluste.

In Sopachuy gönnen wir uns eine Mittagspause, und am späten Nachmittag erreichen wir bereits Zudañez, wo ein weiterer kurzer Halt erfolgt. Die Reise führt uns weiter hinauf in die Anden nach Tarabuco, wo wir schliesslich die Asphaltstrasse erreichen. Nach zehn Stunden holpriger Fahrt taucht Sucre endlich am Horizont auf. Erschöpft, aber erleichtert, steige ich aus und nehme ein Taxi zum Hostal Recoleta-wieder erwartet mich dasselbe Zimmer wie bei meiner Ankunft aus La Paz vor fast einem Monat.




Sucre - Dienstag, 13. Dezember, Tag 29

Dank des äusserst bequemen Bettes habe ich heute länger geschlafen und kann den Tag entspannt angehen - mein Flug nach La Paz startet erst morgen. Nach einem Monat ohne warme Dusche geniesse ich dieses kleine Luxusmoment besonders. Ebenso habe ich das vielfältige Frühstücksbuffet mit seinen exotischen Früchten während meiner Wanderung schmerzlich vermisst.

Kaum zurück in der Zivilisation, gönne ich mir einen Besuch in der Peluquería - Haare und Bart sind längst überfällig. Doch als ich mich setze, entfacht der Friseur einen Bunsenbrenner und wedelt damit bedrohlich umher. "Keine Sorge", sagt er gelassen, "ich desinfiziere nur meine Scheren - wegen der Läuse, wissen Sie."

Nach dem Friseurbesuch überlasse ich meine Bergschuhe zwei Schuhputzerjungs - jeder nimmt sich einen Schuh vor. Das Ergebnis ist beeindruckend und verdient eine grosszügige Belohnung. Auf dem Kleidermarkt kaufe ich neue Hosen und ein T-Shirt, denn meine Kleidung hat die Strapazen der Expedition nicht unbeschadet überstanden. Den Tag lasse ich schliesslich mit einem köstlichen Abendessen im Hotel Plaza gemütlich ausklingen.




Sucre - Mittwoch, 14. Dezember, Tag 30

Nach einem entspannten Morgen und einem ausgiebigen Frühstück packe ich meine Sachen und nehme ein Taxi zum Flughafen. Am Check-in-Schalter ergattere ich einen Fensterplatz für meinen Rückflug nach La Paz. Kurz nach Mittag befinde ich mich bereits über den Wolken, unterwegs in Richtung Norden. Das Wetter ist klar, und die Sicht in die Täler hervorragend. Erst auf dem Altiplano, kurz vor der Landung in El Alto, geraten wir in gewitterartige Böen, die zu einer etwas ruppigen Landung führt - auf 4000 Metern Höhe jedoch nichts Ungewöhnliches.

Vom Flughafen aus fahre ich mit dem Taxi zum Hotel Oberland, wo mich Walter, der Besitzer, freudig empfängt. Beim gemeinsamen Abendessen später am Abend erzähle ich von meinen Erlebnissen, während Walter von den jüngsten Geschehnissen in seinem Umfeld berichtet. Eines steht fest: Nächstes Jahr wird er seine Familie in der Schweiz besuchen und dabei auch einen Abstecher nach Teufen machen - worauf wir uns schon jetzt freuen.




Hotel Oberland - Mallasa - Donnerstag, 15. Dezember, Tag 31

Die Strapazen der letzten Tage und das bequeme Bett in meinem Zimmer haben dazu geführt, dass ich bis in den späten Morgen liegen blieb. Auch sonst lasse ich den Tag ruhig angehen, geniesse die warme Dusche und erfreue mich anschliessend am reichhaltigen Frühstücksbuffet mit tropischen Früchten, frischen Säften und knusprigen Brötchen.

Walter gesellt sich zu mir und berichtet von den Ereignissen der letzten Wochen - meist sind es keine erfreulichen. Umso wohltuender ist es, für eine Weile nur den Klängen der Natur zu lauschen und ihre ungezähmte Schönheit zu spüren.

Die Menschen auf dem Land, von wo ich gerade komme, kennen nur die Sorgen des Nachbarn. Viele wissen nicht einmal, auf welchem Kontinent sie leben oder dass es Ozeane gibt. Ihre grösste Sorge ist, ob die Ernte gut ausfällt - und ob es genug zu essen geben wird.

Gemütlich packe ich meine Sachen für den morgigen Rückflug nach Hause. Danach sitze ich draussen in der Sonne und lese endlich den Beobachter, den ich von daheim mitgenommen hatte, aber bisher nie zur Ruhe kam, ihn zu lesen.

Am Abend lädt mich Walter ins Restaurant zu seiner Abschiedsfeier ein. Es gibt mexikanische Spezialitäten - und ehrlich gesagt, habe ich dabei etwas zu tief ins Glas geschaut. Aber die Stimmung war ausgelassen und herzlich. Walter und seine Familie werden übermorgen nach Costa Rica ausreisen, um sich dort eine neue Zukunft aufzubauen.




Hotel Oberland - Mallasa - Freitag, 16. Dezember, Tag 32

Etwas verloren stehe ich frühmorgens um 6:00 Uhr auf der Strasse und warte vergeblich auf das bestellte Taxi. Als es endlich auftaucht, muss sich der Fahrer sputen, damit ich rechtzeitig zum Flughafen El Alto gelange. Zum Glück herrscht um diese Uhrzeit kaum Verkehr, und ich erreiche den Check-in-Schalter gerade noch rechtzeitig - trotz der langen Warteschlange.

Der Rückflug über Lima, La Guajira und Frankfurt verläuft reibungslos. Zuhause am Flughafen werde ich von Dora mit grosser Freude empfangen - ein schöner Abschluss dieser Reise.





Literatur: